Donnerstag, 29. Mai 2014

IQWiG Pressemitteilung: Nur gucken, nicht anfassen: EMA-Nutzungsbedingungen für klinische Studiendaten impraktikabel

Nur gucken, nicht anfassen: EMA-Nutzungsbedingungen für klinische Studiendaten impraktikabel
Dr. Anna-Sabine Ernst Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)    
Daten dürfen nur am Bildschirm betrachtet werden / Vorzensur durch Hersteller 
        
Die europäische Zulassungsbehörde EMA (European Medicines Agency) erhält von Arzneimittelherstellern umfangreiche Daten aus klinischen Studien, auf deren Basis über die Zulassung neuer Arzneimittel entschieden wird. Um dieses Material der Wissenschaft und Entscheidungsträgern zur Verfügung stellen zu können, hatte die EMA 2013 einen Entwurf für einen Leitfaden zur Veröffentlichung von Daten aus klinischen Studien vorgelegt, der eine weitreichende Transparenz von Studiendaten vorsah.

An den anschließenden Konsultationen hat sich neben zahlreichen anderen Interessenten auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) intensiv beteiligt. Umso enttäuschender das Ergebnis, vor allem der Entwurf der Nutzungsbedingungen für die EMA-Schnittstelle, über die künftig jedermann auf die Daten zugreifen können soll.

Nur Lesen erlaubt

In der vergangenen Woche wurde bekannt, was die EMA am 12. Juni 2014 beschließen möchte. Demnach dürfen Interessenten die klinischen Studiendaten lediglich am Bildschirm betrachten . Untersagt sind dagegen das Herunterladen, das Abspeichern, die Bearbeitung, das Abfotografieren, das Ausdrucken, die Verteilung und die Übertragung der Informationen.

Diese Bedingungen machen jede wissenschaftliche Auswertung klinischer Studiendaten, beispielweise im Rahmen einer Nutzenbewertung, völlig unmöglich. Denn dazu muss man gewaltige Datenmengen – oft mehrere Tausend Dokumentseiten – nicht nur sichten, sondern auch markieren und sichern, aus verschiedenen Studien zusammenführen, biometrisch auswerten und mit Mitarbeitern austauschen können.

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen?

Außerdem sieht der Entwurf vor, dass die Industrie im Rahmen ihrer Zulassungsanträge jeweils zwei Studienberichtsfassungen bei der EMA einreicht: eine vollständige, anhand derer die EMA über die Zulassung entscheidet, und eine unvollständige für die Fachöffentlichkeit.

Bisher wurde diskutiert, dass Einzeldaten, durch die vielleicht Patienten identifizierbar wären, vor der Veröffentlichung aus den Studienberichten gelöscht werden. Nun wird dieser Schritt auf Studienergebnisse erweitert, und die Vorgaben sind so vage formuliert, dass der Umfang der Schwärzung schwer absehbar ist.

Vollständige Daten sind unentbehrlich

„Angesichts der Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren mit der Industrie gemacht haben, ist dieses Verfahren alarmierend“, so Jürgen Windeler, der Leiter des IQWiG. „Gleichzeitig zeigen unsere Erfahrungen aus der frühen Nutzenbewertung, wie wertvoll vollständige Studiendaten für die Diskussion um neue Medikamente sind. Daher überrascht uns dieser plötzliche Rückschritt, der aus unserer Perspektive einfach nicht nachvollziehbar ist.“

Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG, ergänzt: „Weder Fachpublikationen noch andere öffentliche Dokumente reichen an den Informationsgehalt der vollständigen klinischen Studiendaten heran, wie sie der EMA vorliegen. Daher haben wir den EMA-Entwurf von 2013 als großen Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Die nun bekannt gewordene, überraschende Revision stellt dagegen nicht den geringsten Fortschritt gegenüber dem Status quo dar: Weder erhalten wir alle Daten, noch können wir abschätzen, wie viel uns vorenthalten wird und wie repräsentativ der Rest ist.“

Lebensqualität darf herausredigiert werden

Die EMA betrachtet zum Beispiel redaktionelle Eingriffe als legitim, bei denen Hersteller die Ergebnisse von explorativen Endpunkten, die für die Zulassungsentscheidung von untergeordneter Bedeutung sind, löschen. Solche Studienergebnisse bezieht das IQWiG regelmäßig in seine Bewertungen ein, da in ihnen häufig patientenrelevante Endpunkte wie die gesundheitsbezogene Lebensqualität untersucht werden, die in Publikationen in Fachzeitschriften häufig nicht berichtet werden.

„Wir reden hier über Studien an Menschen, die in der Hoffnung teilgenommen haben, dass mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse bessere Therapien entwickelt werden“, so Wieseler. „Diese Erkenntnisse können nur dann für die Verbesserung der Patientenversorgung genutzt werden, wenn sie für alle öffentlich verfügbar sind. Nicht nur das IQWiG benötigt diese Studiendaten, sondern z. B. auch andere Wissenschaftler, die systematische Übersichtsarbeiten erstellen, oder die medizinischen Fachgesellschaften, die Leitlinien für die Behandlung von Patienten entwickeln.“

Stellungnahme im British Medical Journal

Ihre fachliche Kritik an der neuen EMA-Richtlinie haben Wieseler und ihre Kollegen in einer Veröffentlichung im British Medical Journal zusammengefasst, einer sogenannten Rapid Response. Darin machen sie deutlich, dass die jetzigen Pläne eklatant vom 2012 verkündeten Paradigmenwechsel der EMA – hin zur mehr Datentransparenz – abweichen. „Veröffentlicht“ könne man die EMA-Daten im Grunde nicht nennen. Denn: „Daten, mit denen wir nicht arbeiten können, sind nach wie vor verborgen – selbst wenn wir sie auf dem Bildschirm sehen.“

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E-Mail » presse@iqwig.de

 

Sonntag, 25. Mai 2014

Pfizer knickt wegen Antidepressivum Zoloft ein und zahlt erstmalig in Deutschland Schadenersatz

PRESSEERKLÄRUNG     

Dormagen, 26. Mai 2014.

Nach jahrelangem Rechtsstreit haben die Kläger und das pharmazeutische Unternehmen Pfizer einen Vergleich vor dem Oberlandesgericht Köln geschlossen.

Gegenstand des Vergleichs ist eine Klage auf Schmerzensgeld und Schadenersatz gegen Pfizer bezüglich des Antidepressivums Zoloft.

Die Mutter und Ehefrau der Kläger, Frau Monika Kranz, hatte sich im Jahr 2005 das Leben genommen, nachdem sie das Antidepressivum Zoloft eingenommen hatte. Für die behandelnde Ärztin wie für die Kläger war ihr Suizid vollkommen unerwartet und ohne vorherige Anzeichen. Nach Ansicht der Kläger war das Medikament Zoloft die auslösende Ursache für den Suizid und beschuldigten das Unternehmen Pfizer, das Suizidrisiko jahrelang verschwiegen und verschleiert zu haben. Denn obwohl die amerikanische Aufsichtsbehörde FDA ein halbes Jahr zuvor sämtliche pharmazeutische Unternehmen in den USA verpflichtet hatte, auf der Verpackung auf das erhöhte Suizidrisiko der Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen hinzuweisen, enthielt die Packungsbeilage und die Fachinformation in Deutschland zu dieser Zeit keinen Hinweis. Die Kläger begründeten ihre Klage daher insbesondere auch mit der vorsätzlichen Verletzung der Instruktionspflichten nach dem Arzneimittelgesetz § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 durch die Pfizer Pharma GmbH.

Möglich geworden ist der Vergleich letztendlich jedoch nur aufgrund der umfangreichen Berichterstattung in den deutschen Medien, insbesondere in der Frontal21 Dokumentation „Das Pharmakartell“ und in der ARD-Reportage Die Story: „Gefährliche Glückspillen“ und aufgrund der Auskunft bei der Aufsichtsbehörde. Die hierdurch bekannt gewordenen Unterlagen - insbesondere des Sachverständigengutachtens zur Zulassung von Zoloft in Deutschland im Jahre 1996- belegen, dass die Problematik des Suzidrisikos schon früh von der Beklagten erkannt wurde, man aber trotz dessen der Ansicht war, dass ein Hinweis in der Packungsbeilage nicht erforderlich sei.



Für den Schadenersatzprozess war dies aber unerheblich, denn von der Beklagten wurde argumentiert, dass nicht das Medikament sondern die Grunderkrankung der Depression den Suizid ausgelöst hat und daher die mit der Novellierung des Schadenersatzrechts im Jahre 2002 eingeführte Kausalitätsvermutung des §84 Abs. 2 Satz 2 nicht gilt. Die Kläger hätten dann beweisen müssen, dass andere Ursachen den Schaden nicht verursacht haben können. In vergleichbaren Fällen sind die Kläger regelmäßig hieran gescheitert. In einem Leiturteil zu Vioxx hat der BGH festgestellt, dass die Einführung der Kausalitätsvermutung wegen der Ausschlussmöglichkeit in vielen Fällen wirkungslos bleiben dürfte.

Nach unserer Kenntnis ist seit Einführung der Neuregelung kein einziger pharmazeutischer Unternehmer verurteilt worden. Die Neuregelung hat daher zu keiner Verbesserung der beweisrechtlichen Situation von Arzneimittelgeschädigten geführt. In den USA hat der Hersteller des Arzneimittels Vioxx im Vergleichswege 6,87 Mrd. US $ gezahlt. In Deutschland werden sämtliche Vioxx-Geschädigten, spätestens nach dem BGH-Urteil vom 26.03.2013 vor Gericht keine Chance mehr haben. Auch die deutsche Bayer AG musste in den USA nahezu eine Milliarde an Schadenersatz wegen des erhöhten Thromboserisikos des Verhütungsmittels Yasmin leisten, während in Deutschland kein Kläger je etwas erhalten hat.

Vor diesem Hintergrund muss der erzielte gerichtliche Vergleich und das Nachgeben des pharmazeutischen Unternehmens schon als großer Erfolg gewertet werden. Denn zum ersten Mal hat in Deutschland ein pharmazeutisches Unternehmen wegen eines Antidepressivums einen Vergleich geschlossen und Schadenersatz gezahlt. Über die Höhe der Entschädigung wurde Stillschweigen vereinbart. Weitere Auflagen bestehen nicht.

Dormagen, 26.05.2014


Dr. Lothar Schröder