Samstag, 22. Mai 2010

Geheimnis-Krämerei der Medizin kostet Menschenleben

Liebe Leser,

das Kölner Institut IQWiG hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht über die Geheimnis-Krämerei in der Medizin (http://www.trialsjournal.com/content/11/1/37 ).
In der Wiener Zeitung äußert sich eine Autorin der Studie (http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4109&Alias=wzo&cob=494098). Sie sagt, dass das Verschweigen von Risiken  in der Vergangenheit  wahrscheinlich zehntausenden Patienten das Leben gekostet hat. Als  Beispiele für den "publication bias" werden dort auch die SSRI Antidepressiva und Vioxx genannt.
Ich wundere mich, das über die Studie bisher noch nicht in Deutschland im Fernsehen oder in einer Zeitung berichtet wurde.

WIENER.Zeitung at

Die geheimen Archive der Gesundheitsforschung: Was nicht marktfähig ist, wird verschwiegen

Medizin hält Studien zurück

Sie brachte positive Studien-Ergebnisse: Die 2009 zugelassene "Tomatenpille" beruht auf einer in reifen Paradeisern enthaltenen Substanz. Sie soll schädlichen Fetten im Körper binnen acht Wochen den Garaus machen. Foto: NTI

Sie brachte positive Studien-Ergebnisse: Die 2009 zugelassene "Tomatenpille" beruht auf einer in reifen Paradeisern enthaltenen Substanz. Sie soll schädlichen Fetten im Körper binnen acht Wochen den Garaus machen. Foto: NTI

Von Eva Stanzl

Aufzählung Experten: Negativ-Ergebnisse werden unter den Tisch gekehrt.
Aufzählung Geheimnis-Krämerei kostet Patienten das Leben.
Bonn/Wien. Geheimniskrämerei in der Gesundheitsforschung könnte in den vergangenen Jahrzehnten zehntausenden Menschen das Leben gekostet haben. Das geht aus einer Untersuchung des deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hervor. Die Forscher haben rund 60 Fälle zusammengetragen, in denen die Ausbreitung von Wissen in der Medizin behindert wurde.

Dazu wurden hunderte von Fachartikeln und andere Quellen ausgewertet, unter anderem aus den Gebieten Psychiatrie, Schmerztherapie, Herz-Kreislauf- Medizin, Krebstherapie und Infektionskrankheiten. "Die Sammlung liest sich wie ein Skizzenbuch zu einer Krimiserie", so die Autoren.

Vor allem das Verschweigen negativer Untersuchungsergebnisse bei neuen Medikamenten sei weit verbreitet. Eine Analyse von 90 in den USA zugelassenen Medikamenten zeige, dass diese in insgesamt 900 Studien erprobt worden seien, jedoch selbst fünf Jahre nach der Zulassung 60 Prozent der Studien noch nicht veröffentlicht worden seien. Bei anderen Studien würden oft nur ausgewählte Ergebnisse veröffentlicht.

"Dadurch werden Studienergebnisse oft positiver dargestellt, als sie sind", berichtet Studienautorin Beate Wieseler, Stellvertretende Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung des Bonner Instituts. In der Wissenschaft wird das Phänomen "publication bias" genannt – oder: "Verzerrung durch selektives Veröffentlichen".

Auslöser für die Suche nach dokumentierten Beispielen für "publication bias" waren eigene Erfahrungen des IQWiG – zuletzt bei der Bewertung des Medikaments Reboxetin zur Behandlung von Depression. Das Pharmaunternehmen Pfizer hatte dem IQWiG erst unter öffentlichem Druck Studien zur Verfügung gestellt, die es bis dahin unter Verschluss gehalten hatte. Und in diesen unveröffentlichten Studien schnitt Reboxetin erheblich schlechter ab, als es zuvor anhand der veröffentlichten Studien den Anschein hatte. "Über viele Jahre wurden Patienten und Ärzte getäuscht", betont Wieseler.

Eine besonders hohe Korrelation zwischen Eigeninteressen und publizierten Resultaten ortet das IQWiG bei von Pharmafirmen durchgeführten Studien. Zitiert wird zudem eine Analyse, in der 2000 Studien im Bereich der Krebsmedizin nach Geldgebern getrennt ausgewertet wurden: Von den industriefinanzierten Projekten waren 94 Prozent nicht veröffentlicht, von den durch Universitäten finanzierten Projekten fehlten 86 Prozent. Auch Zulassungsbehörden müssen demnach aufgrund von gesetzlichen Regelungen Daten zurückhalten.

Schädliche Therapien

Leidtragende sind häufig die Patienten. Wenn Misserfolgsmeldungen unveröffentlicht bleiben, "setzen Ärzte und Patienten häufig Therapien ein, die in Wahrheit nutzlos oder sogar schädlich sind", so Wieseler. Etwa gehen Forscher heute davon aus, dass in den 1980er Jahren verschriebene Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen zehntausenden Menschen das Leben gekostet haben, weil frühe Hinweise auf gefährliche Nebenwirkungen nicht veröffentlicht worden seien.

"Bei registrierten Studien werden die Ergebnisse zurückgehalten, weil die untersuchten Präparate schlechter oder gleich gut funktionieren wie das Kontrollprodukt. Das färbt die Resultate der Evidenz-basierten Medizin rosa ein", bestätigt Claudia Wild vom Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment in Wien: "Pharmafirmen wollen den Markt und medizinische Forscher stets neue Sensationen publizieren." Kann man überhaupt noch auf die Medikamente vertrauen, die der Arzt verschreibt? Wild umschreibt es so: "Wenn Sie Ihrem Hausarzt vertrauen, dann vielleicht ja."

Kommentare zum Artikel:

20.05.2010 13:27:42 @B.A.Meier

Danke. Ist beeindruckend, denn fast alle der hier aufgezeigten Missstände verletzen geltendes Recht, sowohl in Europa als auch in USA. Mir ist es allerdings nicht gelungen Informationen über rechtskräftige Verurteilungen der hier genannten Unternehmen zu bekommen. Astrazeneca ist lediglich verknackt worden, weil sie ihr Quietapin unerlaubterweise für Kinder und Jugendliche beworben haben. Was natürlich lächerlich ist und lediglich Geld in die Kasse der US-Gesundheitsbehörde FDA spülen sollte. Offensichtlich sind unsere Rechtssysteme unfähig die Verstöße auch zu bestrafen oder die von Arzneitelegramm & Co vorgelegten Beweise halten einer Überprüfung nicht Stand. Moralisch ist das alles extrem verwerflich. Allerdings ist Moral in Politik und Wirtschaft längst keine Kategorie mehr.

Peter Minar

20.05.2010 03:28:56 @ Peter Minar - hier sind sie

die gewünschten Beweise
http://i.bnet.com/blogs/spielmans-parry-ebm-to-mbm-jbioethicinqu-2010.pdf
http://www.pharmtech.uni-bonn.de/dra/schoenhoefer
Andersherum geht auch: positive Ergebnisse unterdrücken und "Studien" so auslegen, dass sie negativ ausgehen müssen. Nur um die "durchgefallenen" Stoffe dann in der Presse weltweit als lebensverkürzend und gefährlich darstellen zu können. Das wird bevorzugt bei Vitaminen und anderen Mikronährstoffen praktiziert. Denn es wäre geschäftsschädigend, wenn die Medizinindustrie auf Umsatz verzichten müsste, weil Patienten sich durch die Einnahme fehlender Nährstoffe selbst heilen würden.
http://www.gladiss.de/pdf/vitamin_med.pdf
http://www.organicconsumers.org/articles/article_4399.cfm

B.A.Meier

19.05.2010 16:58:29 Beweise?

Das Verschweigen von Studien ist sowohl in Europa als auch in den USA verboten. Ich gehe daher davon aus, dass die genannten Institutionen (IQWiG, Ludwig Boltzmann Institut für HTA)entsprechend ihrem Wissen Strafanzeige erstattet haben.
Ich gehe auch davon aus, dass die Wienerzeitung über den Verlauf dieser Anzeigen informieren wird. So lange hier nichts gerichtlich untersucht und verurteilt ist, sind die Aussagen von IQWiG und Claudia Wild bestenfalls Eigenwerbung ohne Substanz. Derartige Vorwürfe werden seit Jahren erhoben, die Beweise sind derart dürftig, das mir nur wenige Verurteilungen bekannt sind. Auch für Experten sollte gelten, Vorwürfe ohne Beweise sind Unterstellungen.

Peter Minar

20.05.2010 03:20:26 Die Logik sagt einem,

dass mit körperfremden Substanzen aus Erdöl nicht die Ursachen von Krankheiten geheilt werden können. Chronische Vergiftung durch Chemikalien in Luft, Trinkwasser, Lebensmitteln und Mangel an Nährstoffen lassen sich nun einmal nicht durch weitere Giftstoffe heilen.
Und weil das Prinzip 'Gleiches ist mit Gleichem heilbar' zwar in der Homöopathie, nicht aber in der organischen Chemie/Pharmazie wirkt, muss bei Arzneimittel- und Medizinstudien getäuscht getrickst und gelogen werden.
Das geht so weit, dass komplette Medizinzeitschriften erfunden werden, um darin unternehmenseigene "Ergebnisse" publizieren zu können. siehe Firma Merck.
In "Meta-Analysen" können vorhandene ältere Studien nach Kriterien, die ein vorgefasstes Ergebnis erbringen, nochmals "ausgewertet" werden.
Damit können auch für den Patienten hilfreiche Verfahren ausgebremst werden.Die Studien, die in der "Meta-Analyse" bewertet werden, werden so ausgewählt und "ausgewertet", dass das gewünschte Ergebnis herauskommt. Um dann weltweit in den Schlagzeilen fälschlich als gefährlich oder lebensverkürzend dargestellt zu werden. So hundertfach geschehen bei Nährstoffen und Vitaminen, die wir zum Überleben benötigen.
http://www.pharmtech.uni-bonn.de/dra/schoenhoefer
http://i.bnet.com/blogs/spielmans-parry-ebm-to-mbm-jbioethicinqu-2010.pdf
http://www.gladiss.de/pdf/vitamin_med.pdf
http://www.organicconsumers.org/articles/article_4399.cfm

Frankfurter Rundschau “Eine Selbsttötung und ein Medikament” 08. Mai 2010

Liebe Leser,

nachdem im letzten Jahr der Kölner Stadt Anzeiger über den Fall meiner Frau und Zoloft berichtet hatte, hat nun auch die Frankfurter Rundschau einen Artikel hierüber gebracht. Neben dem, was im Kölner Stadt-Anzeiger stand, enthält er auch einige Neuigkeiten zur Akteneinsicht und zum Suizidrisiko von Zoloft, über die bisher nur in diesen Blog berichtet wurde.

Pfizer und die Aufsichtsbehörde BfArM  müssen sich fragen lassen, ob ihre Argumentation, dass die erhöhte Suizidalität und Suizidrate von Zoloft um Vergleich zur Kontrollgruppe auf die Vorerkrankungen der Patienten in der Zoloft-Gruppe zurückzuführen ist, nicht wissenschaftlich fragwürdig ist. Denn hierdurch werden die wissenschaftlichen Prinzipien der evidenzbasierten Medizin  auf den Kopf gestellt und der Willkür Tür und Tor öffnet.

Eine Selbsttötung und ein Medikament

Am Suizid seiner Frau sei ein Psychopharmakon der Firma Pfizer schuld, sagt Lothar Schröder. Seit Jahren kämpft er gegen den Pharmariesen. Der bestreitet sämtliche Vorwürfe.

Von Detlef Schmalenberg

Monika Kranz und Lothar Schröder

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Monika Kranz und Lothar Schröder (Bild: privat)

Seine Frau, die habe vielleicht gedacht, es liege nur an ihr. Sie sei selber schuld, dass es ihr so schlecht geht. "Wieso kann ich mich nicht zusammenreißen?", könnte sie gedacht haben. Vielleicht war ihr die Hilflosigkeit auch peinlich. "Oder sie wollte mir nicht zur Last fallen", sagt Lothar Schröder, der Blick geht ins Leere.

Als er Monika das letzte Mal lebend gesehen hat, lag sie im Bett. Für gewöhnlich stand sie immer mit auf, wenn Schröder vor der Arbeit frühstückte. Diesmal jedoch blieb sie liegen. Als er sich von ihr verabschiedete, antwortete sie nicht.
Es war Donnerstag, der 21. April 2005, die Sonne schien, im Radio sprachen die Kommentatoren über Josef Kardinal Ratzinger, der zwei Tage zuvor als Benedikt XVI. zum Papst gewählt worden war. Doch Schröder hörte nur mit einem Ohr zu. Auf dem Weg zur Arbeit bei einer Versicherung dachte er an seine Frau. Dass sie so schweigsam war an diesem Morgen. Dass sie schon in den vergangenen Tagen so niedergeschlagen gewirkt, sich nachts unruhig hin- und hergewälzt hatte.
Monika Kranz war leicht depressiv, hatte ihre Psychopharmaka aber auf Anraten ihrer Ärztin wieder abgesetzt, weil sie die Tabletten nicht vertrug. Da sie das Medikament in einer verhältnismäßig geringen Dosis eingenommen hatte, müsse es auch nicht langsam "ausgeschlichen" werden, hatte die Medizinerin gesagt.
"Die wird schon wissen, was sie macht", dachte Schröder. Als er nach dem Mittagessen zurück in sein Büro kam, hatte ein Kollege einen Zettel auf seinen Schreibtisch gelegt. Er solle dringend bei seinem Schwager anrufen; der Schwager wohnt im Nachbarhaus.
"Komm nach Hause, Monika ist tot", sagte eine tränenerstickte Stimme am Telefon.
Monika Kranz, 49 Jahre, hatte sich das Leben genommen. Nur 200 Meter von ihrem Haus im Kölner Stadtteil Höhenhaus entfernt hatte sie sich von einem Güterzug überrollen lassen.
Wenn Lothar Schröder von diesem Tag berichtet, braucht man keine Zwischenfragen zu stellen. Er erzählt und erzählt, als ob es gestern gewesen wäre. Die Worte kommen langsam und präzise. Akribisch bemüht er sich, auch ja kein Detail zu vergessen. Er will aufklären, den Tod seiner Frau. Will beweisen, dass ein Medikament zumindest eine Mitschuld daran hat. Der Hersteller des Präparates, der Pharmakonzern Pfizer, hätte im Beipackzettel früher über eine mögliche Selbstmordgefahr aufklären müssen, meint Lothar Schröder. Patienten als mündige Bürger, die selbst entscheiden wollen, ob sie Risiken eingehen, hätten einen Anspruch auf diese Information gehabt, die ihnen allzu lange verwehrt worden sei.
Schröder, groß, schlank, trainiert für seine Marathonläufe, ist promovierter Mathematiker. Der Einzige mit Abitur in seiner Familie. Die Eltern wollten, dass Lothar eine Lehre macht. Aufs Gymnasium durfte er erst gehen, nachdem sich der Klassenlehrer in der Hauptschule für den talentierten Jungen eingesetzt hatte.
Er wolle die "Dinge durchdringen, bis ins letzte Eck verstehen", sagt der 47-Jährige. Die Mathematik habe ihn gelehrt, hartnäckig und genau zu sein. "Es ist eine Wissenschaft, in der alles aufeinander aufbaut. Wo es nur falsch oder richtig und nichts dazwischen gibt und immer einen Grund, wieso etwas so ist, wie es ist", sagt er.
Es ist der Wunsch, eine Erklärung für das Unvorstellbare zu finden, der Schröder antreibt. Wenn Geschichten wie die vom Suizid Robert Enkes durch die Medien gehen, wird er besonders grüblerisch. Alles ist wieder so nah, deutlich und schmerzhaft. "Ich bin dann wohl nicht mehr so richtig greifbar", sagt er. Auch nicht für seine neue Frau, die er zwei Jahre nach dem Tod von Monika kennen gelernt hat. "Weil mich das dann auffrisst, irgendwie", sagt er und schweigt.
In den Tagen nach dem Selbstmord konnte Schröder kaum schlafen. Meine Frau hatte zwar Probleme, dachte er, aber waren die wirklich so groß, um sich das Leben zu nehmen? Dem Witwer kam das Medikament in den Sinn: Das Antidepressivum Zoloft der Firma Pfizer, das Monika Kranz erstmals im Sommer 2004 genommen hatte.
Sie fühlte sich schlecht, war oftmals betrübt. Eigentlich war sie ein fröhlicher Mensch. "Deshalb habe ich gedacht, das wird schon wieder", erinnert sich Schröder. Es wurde schlimmer, und der Hausarzt empfahl "einen Stimmungsaufheller für den Morgen, um besser in den Tag zu kommen".
Der Doktor verschrieb ihr Zoloft. Doch sie nahm nur eine einzige Tablette, weil sie anschließend nicht mehr schlafen konnte und Schweißausbrüche bekam. In der Folge hatte sich ihre leichte Depression zwar auch ohne Psychopharmaka gebessert. Um keinen Rückschlag zu riskieren, könne sie es vorsorglich aber doch noch einmal mit Zoloft versuchen, riet ihre Neurologin im April 2005. Zwei Wochen nahm Monika Kranz täglich eine halbe Tablette, bis die Nebenwirkungen wieder so stark wurden, dass das Medikament abgesetzt werden musste. 48 Stunden später war Monika Kranz tot.
Eher um auszuschließen, dass die Pillen etwas mit dem Selbstmord zu tun hatten, als Beweise dafür zu finden, begann Schröder mit der Recherche im Internet. "Und was ich gefunden habe, hat mich wütend gemacht", sagt er.

Heftiger Streit über neuartige Antidepressiva

Zoloft-Pillen

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Zoloft-Pillen (Bild: getty)

Die Tabletten gehören zur Medikamentenklasse der "selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer" (SSRI). Über kaum eine Medikamentengruppe ist in den vergangenen Jahren so heftig gestritten worden wie über diese neuartigen Antidepressiva.
Einerseits werden sie als Heilsbringer beschrieben, die die Stimmung psychisch kranker Menschen deutlich aufhellen können - und zwar ohne die sedierenden Nebenwirkungen älterer Präparate.
Andererseits haben Studien wie die des britischen Wissenschaftlers Irving Kirsch bewiesen, dass sich der Erfolg besonders bei leichteren Depressionen kaum von der Wirkung unterscheidet, die durch den Einsatz von Placebos erzielt wird.
Die Auswertung von 35 zum Teil bisher unveröffentlichten Untersuchungen und Unterlagen der US- Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) ergab, dass der Nutzen auch von neueren Medikamenten allenfalls bei sehr schweren Depressionen erkennbar ist. Eine Information, die wohl kaum ein Kranker von seinem Arzt bekommt.
Einige Patienten haben die Mittel sogar noch tiefer in die Depression getrieben, berichten Experten. Deshalb hat die US-amerikanische Medikamentenaufsichtsbehörde FDA die SSRI-Produzenten in den USA bereits im Herbst 2004 dazu verpflichtet, auf ein erhöhtes Suizidrisiko zumindest bei Kindern und Jugendlichen hinzuweisen.
Nicht nur in den USA, auch in Deutschland war das Problem längst bekannt. Im September 2004, also sieben Monate vor dem Tod von Monika Kranz, hatte sogar die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft im Deutschen Ärzteblatt darüber informiert, dass bei den Medikamenten nach Ansicht von Experten "ein Risiko suizidaler Handlungen grundsätzlich und unabhängig vom Alter angenommen werden muss".
Durch die Tabletten könnten "psychomotorische Erregungssymptome wie Unruhe, Angst, Schlaflosigkeit, verstärkte Reizbarkeit, Aggressivität oder auch Ich-fremde dranghafte Suizidideen" entstehen. Diese Informationen sollten nicht nur in den "Fachinformationen" für Ärzte stehen, sondern vor allem im Beipackzettel des Medikaments, so dass jeder Patient informiert ist, forderten die Experten.
"Dass jemand wie Herr Schröder sich dann fragt, wieso dies im Sinne der Patienten nicht geschehen ist, kann ich mehr als nachvollziehen", sagt der Psychopharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, emeritierter Professor aus Berlin und Mitglied der Arzneimittelkommission, deren Aufgabe es ist, Medikamente unabhängig zu bewerten. Den scheinbaren Widerspruch, dass die SSRI-Medikamente das, was sie verhindern sollen, auslösen können, erklärt er mit der Unterschiedlichkeit von Selbsttötungsursachen: Die Vorstellung, dass sich die meisten Menschen umbringen, nachdem sie eine verheerende Bilanz über ihr Leben gezogen haben, stimme nicht immer.
"Suizidalität kann offenbar auch eine chemisch-biologische Ursache im Gehirn haben." Beispielsweise ausgelöst durch die Inhaltsstoffe eines Medikamentes, könne die "Aggressivität gegen das eigene Ich" zumindest zeitweise extrem gesteigert werden, sagt Müller-Oerlinghausen.
Tabletten, die zur Todesfalle werden können? Zwar gab es erst im September 2005 eine Entscheidung der Europäischen Kommission, auf ein Selbstmordrisiko zumindest bei jungen Erwachsenen bis 25 Jahren hinzuweisen, was Pfizer im Beipackzettel für Zoloft dann auch umgehend machte. "Aber Behörden und Hersteller hätten bereits viel früher reagieren müssen", sagt Jörg Heynemann, Fachanwalt für Medizinrecht, der Schröder vertritt: "Denn die Suizidgefahr war seit Jahren bekannt und nach dem Arzneimittelrecht reicht schon ein begründeter Verdacht als Voraussetzung, damit vor möglichen Risiken gewarnt werden muss."
Wenn seine Frau von dem Problem gewusst hätte, hätte sie die Tabletten niemals genommen, da ist sich Schröder sicher. Falls doch, hätte er Monika in den kritischen Tagen nach dem Absetzen des Mittels keinesfalls allein gelassen. Und vor allem hätte sie dann gewusst, dass ihre Suizidgedanken mit den Tabletten zusammen hängen könnten. "Und dass dies vorbei geht, wenn der Wirkstoff nicht mehr im Körper ist", sagt Schröder.
Er hat Pfizer Anfang 2006 wegen fahrlässiger Tötung und Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz angezeigt, weil das Unternehmen seiner Ansicht nach zu spät vor den möglichen Nebenwirkungen gewarnt hat.
Doch im März 2006 lehnte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Pharmariesen ab.
Die Behörde folgte der Sichtweise des Pharma-Konzerns. Die Gefahr einer erhöhten Suizidalität bei "älteren Erwachsenen" sei wissenschaftlich nicht belegt, argumentierte Pfizer. Der Beipackzettel für Zoloft sei jederzeit nach den gesetzlichen Vorgaben sowie den "aktuellen medizinischen Erkenntnissen aktualisiert" worden, so der Konzern auf FR-Anfrage. Überdies gebe es keinen Beleg dafür, dass Zoloft ein Auslöser für den Selbstmord von Monika Kranz gewesen sein könnte, heißt es in einem Pfizer-Schreiben an die Justiz.
"Die haben alles abgestritten. Bis hin zu der Tatsache, dass meine verstorbene Frau das Medikament überhaupt genommen hat", sagt Schröder, der auch ohne Unterstützung der Staatsanwaltschaft keine Ruhe gab. Er sprach mit zahlreichen Experten, schrieb unzählige Briefe. "Das war ich Monika schuldig", glaubt er. Seine Frau, politisch engagiert, hohes Gerechtigkeitsempfinden, war jemand, der sich einmischte, der sich wehrte. "Ich hingegen gehe Streitigkeiten lieber aus dem Weg, bin auf Harmonie bedacht", sagt Schröder. Umso schwerer seien ihm deshalb die Auseinandersetzungen mit Pfizer gefallen.

Pfizer verwehrt Akteneinsicht

Auf dass sich ein Drama wie bei Monika nicht wiederhole, auch dafür kämpft er, auf dass ihr Tod nicht umsonst gewesen ist - "bis die Wahrheit auf dem Tisch liegt", sagt er mit einer Mischung aus Bestimmtheit und Trauer.
Beim "Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte", das Zoloft 1996 zugelassen hat, hatte Schröder im Januar 2006 Akteneinsicht beantragt. Drei Jahre brauchte die Behörde, bis sie einen Termin nannte. Auf die Frage, weshalb dies so lange gedauert hat, gab es keine konkrete Antwort. Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass eine Einsichtnahme "nur bei Vorliegen gesetzlicher Voraussetzungen" gewährt werden könne.
"Dass die sich so viel Zeit gelassen haben, ist ohne Zweifel ein Skandal. Die meisten Leute hätten doch schon längst aufgegeben, was womöglich auch das Ziel der Behörde gewesen ist", sagt Müller-Oerlinghausen, der Schröders Recherchen mittlerweile unterstützt. "Ich finde es bewundernswert, wie er für sein Recht kämpft", sagt der Wissenschaftler. Für ihn jedenfalls liege "der Verdacht nahe, dass Schröders Frau durch eine mögliche Nebenwirkung des ansonsten sinnvollen Mittels zu Tode gekommen ist".
Zwar gebe es keine klinischen Studien, die eine erhöhte Selbstmordgefahr auch bei älteren Patienten beweisen. "Aber wir haben eine Reihe von Einzelfällen mit einem Durchschnittsalter von 40 bis 50 Jahren ausgewertet, die sehr überzeugend waren und bei denen an einem kausalen Zusammenhang nicht gezweifelt werden kann", so der Professor. Das Anliegen, herauszufinden, "ob das Wissen um diese Nebenwirkung nicht so rechtzeitig bekannt war, dass es in adäquater Form von der Firma und den Behörden hätte mitgeteilt werden können", sei "mehr als berechtigt".
Müller-Oerlinghausen begleitete Schröder im Sommer 2009 bei dessen Akteneinsicht im Bundesinstitut. Eine Wand voller Akten. Alleine hätte Schröder vermutlich gar nicht gewusst, wo er anfangen soll. Weil er der Behörde Verschwiegenheit zugesichert habe, wolle er sich zu Details der Einsichtnahme nicht äußern, sagt Müller-Oerlinghausen.
"Aber ich lasse mir den Mund nicht verbieten", sagt Schröder. In den Papieren stieß er auf Zahlen, die ihn als promovierten Mathematiker stutzig machten. Die Daten stammen aus der Studie, die Pfizer bei der Zulassung von Zoloft vorgelegt hat. Demnach gab es bei den Menschen, die das Medikament nahmen, deutlich mehr Selbstmordkandidaten als in der Vergleichsgruppe.
In der Stichprobe mit etwa 17.000 Zoloft-Patienten lag die "Suizidalitäts-Rate" bei 0,09 Prozent, konkret ging es um 15 Personen. In der Kontrollgruppe mit etwa 9000 Probanden lag die Rate lediglich bei 0,02 Prozent, konkret ging es um zwei Patienten. Schröder analysierte die Zahlen mit Hilfe von statistischen Berechnungsmethoden. "Dabei wurde deutlich, dass das Ergebnis der Studie nicht mit dem Zufall erklärt werden kann", sagt er. Die Zahlen würden beweisen, dass das Suizidrisiko unter Zoloft mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent größer war als in der Kontrollgruppe. Denn die Zuordnung der Patienten in derartigen Studien werde durch ein Zufallsverfahren bestimmt. Und demnach müsse der Anteil der Patienten in beiden Gruppen etwa gleich groß sein.
Die Schlussfolgerungen Schröders indes seien unzulässig, entgegnete Pfizer auf Anfrage. Unter anderem deshalb, weil jeder Fall einzeln betrachtet werden müsse. Wenn man dies tue, stelle sich heraus, dass die Suizidgedanken beim überwiegenden Teil der Probanden durch deren Vorerkrankungen ausgelöst wurden. Lediglich bei zwei Patienten sei nicht auszuschließen, dass die Selbstmordabsichten durch das Medikament entstanden sind, heißt es in einem Schreiben des Bundesinstituts für Arzneimittel. Zudem werde die Sicherheit von Zoloft, dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit auch durch neueste Studien bewiesen werde, kontinuierlich durch die Zulassungsbehörden in rund 80 Ländern überwacht, so Pfizer weiter. Die "naheliegendste Ursache" für den Suizid von Monika Kranz sei die depressive "Grunderkrankung" der Patientin, bei der "das Risiko eines Suizides bedauerlicherweise zum Krankheitsbild" gehöre, heißt es in einem früheren Schreiben des Konzerns.
Schröder jedoch will nicht locker lassen. Jetzt möchte er auch noch alle Unterlagen zu Zoloft einsehen, die bei Pfizer liegen. Der Pharmariese will dies nicht erlauben.
Doch im Juni 2009 entschied die 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln, dass Pfizer sein Archiv öffnen muss. Die Einsichtnahme beim Bundesinstitut allein reiche nicht aus, um den Auskunftsanspruch des Klägers zu erfüllen, heißt es in einer Verfügung. Pfizer hat beim Oberlandesgericht Köln zwar Berufung gegen die Entscheidung eingelegt. Doch im mündlichen Verfahren haben die Richter bereits zu verstehen gegeben, dass sie den Einspruch ablehnen werden.