Freitag, 2. Oktober 2015

Germanwings-Copilot und Batman-Shooter : Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?

Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/45/45869/1.html

Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?



12.09.2015

Der Psychiater David Healy zum "Medikamentenaspekt" des Amokflugs 4U95254 und bei Amokläufern


Am 24. März hat den Ermittlungen zufolge der Co-Pilot Andreas Günter Lubitz auf seinem Amokflug 4U9525 den Germanwings-Airbus A320 bewusst gegen einen Berg geflogen - eine Wahnsinnstat, die insbesondere für die Opfer, aber auch für ihre Angehörigen an Horror kaum zu überbieten ist. Knapp fünf Monate später wurde in Haltern am See auf dem Kommunalfriedhof eine Gedenkstätte im Beisein der Angehörigen der Opfer eingesegnet. Ein wichtiger Baustein der Trauerarbeit ist damit gelegt, doch damit derlei Katastrophen der Welt in Zukunft möglichst erspart bleiben, wäre es von zentraler Bedeutung, die Ursache(n) dingfest zu machen.
Der international renommierte Psychiater David Healy legt im folgenden Interview dar, warum Medikamente wie Antidepressiva bei Amokläufen wie dem von Lubitz und oder auch dem von "Batman Shooter" James Holmes, der in den USA kürzlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ein entscheidender Auslöser sein können. In diesem Zusammenhang konstatiert auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) auf Nachfrage[1], dass "die DGPPN ein hohes Interesse hat an einer Aufklärung des Germanwings-Falles, in der die Medikamenten-Aspekte mit beachtet werden".

"Es gibt so viele von diesen Massentötungen durch Leute, die Psychopharmaka genommen haben"

Herr Healy, welche Gedanken und Gefühle kamen zuerst in Ihnen hoch, als Sie von dem Amokflug der Germanwings-Co-Pilot Andreas Lubitz hörten?

David Healy: Ich war sehr betroffen und hatte großes Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen. Und als klar war, dass es sich um einen "Kamikaze"-Akt handelte, gehörte zu meinen ersten Gedanken die Frage, ob nicht ein Antidepressivum oder ein anderes Psychopharmakon hier im Spiel war. Kurz darauf habe ich meine Gedanken dazu in dem Artikel Winging it: Antidepressants and Plane Crashes aufgeschrieben.

Welches sind die gewichtigsten Argumente für Ihre These, dass Antidepressiva oder Medikamente mit vergleichbaren Nebenwirkungen die entscheidende Ursache gewesen sein könnten für Lubitz‘ Wahnsinnstat?

David Healy: Ohne dass man exakt weiß, was Andreas Lubitz insbesondere in den ein bis zwei Wochen vor dem Crash an Medikamenten eingenommen hat und was sein klinischer Zustand war, ist es schwierig mit Sicherheit zu sagen, dass die Präparate die Ursache für das Unglück waren. Doch feststeht, dass die Medikamente, die er offenkundig eingenommen hat, Menschen dazu veranlassen können, zu Mördern und Gewalttätern zu werden und einen Massenmord in Erwägung zu ziehen.
Es gibt so viele von diesen Massentötungen durch Leute, die Psychopharmaka genommen haben, dass es fast sicher ist, dass in einigen dieser Massentötungen diese Medikamente in der Tat eine Rolle gespielt haben bzw. spielen.

Können sie diese Aussage mit wissenschaftlichen Studien untermauern?

David Healy: Die FDA hat eine beträchtliche Menge an Daten über das Potenzial von Antidepressiva, gewalttätig zu machen. Auch haben etwa die kanadischen Aufsichtsbehörden genau eine solche Warnung bereits verfügt.[2]
Ich selber habe im Jahr 2006 zusammen mit Kollegen eine Arbeit publiziert, die aufzeigt, dass es kontrollierte Studiendaten gibt, die belegen, dass bestimmte Antidepressiva - so genannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRIs - gewalttätig machen können. Auch habe ich 2013 in einem Beitrag auf meiner Website eine Liste mit Dutzenden Medikamenten veröffentlicht, die Selbstmorde oder Tötungsdelikte auslösen oder verursachen können.

Welche Medikamente werden in dieser Liste genannt?

David Healy: Darunter befinden sich die bekanntesten Antidepressiva wie Prozac und Paxil, Antipsychotika, so genannte Benzodiazepine wie Valium, die auch als Angstlöser oder Beruhigungsmittel bezeichnet werden, Anti-Raucher- und Anti-Asthma-Medikamente, Antihistaminika oder auch Arzneimittel mit stimulierender Wirkung wie Ritalin.

Sind die Medikamente auf Basis persönlicher Erfahrungsberichte in Ihre Liste gelangt?

David Healy: Nein. Sie sind in der Liste aufgeführt, entweder weil Unternehmen dazu verpflichtet sind zu melden, dass die Präparate einen Suizid auslösen können, oder weil es überzeugende Beweise dafür gibt, dass sie in der Tat Selbstmord provoziert haben. Und wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Medikamente, bei denen einige Regierungsbeamte und Mitarbeiter von Unternehmen Kenntnis darüber haben, dass sie Suizide auslösen können - worüber aber Stillschweigen bewahrt wird.

Wie häufig kommt es statistisch gesehen bei SSRI-Antidepressiva zu Gewalt als Nebenwirkung?

David Healy: Mehr oder weniger genauso oft wie es zu Selbstmord als Nebenwirkung von Antidepressiva kommt. Bis zu eine von zehn Personen können suizidale Gedanken und bis zu eine von 20 Personen können gewalttätige Gedanken haben, die sie nicht hätten, wenn sie die Antidepressiva nicht nehmen würden. Die Quote für die begangenen Suizide und Gewaltakte liegt deutlich darunter - bei 1 von 500 oder mehr.
Im Juni berichtete Brice Robin, Staatsanwalt in französischen Marseille, dass Lubitz in den Wochen vor seiner Wahnsinnstat unter dem Einfluss stand von einer Übermedikation aus Anti-Angst-Medikamenten, so genannten Anxiolytika, bei denen es sich wohlgemerkt häufig um Antidepressiva handelt, sowie Valium und anderen Psychopharmaka. Lubitz hätte etwa das Antidepressivum Mirtazapin genommen und deren Dosis zwei Wochen vor dem Crash von 15 auf 30 mg verdoppelt.

In der Produktbeschreibung von Mirtazapin heißt es allerdings, dass in Kurzzeitstudien bei Personen, die älter waren als 24 Jahre, keine erhöhte Suizidgefahr ermittelt werden konnte[3] - und Lubitz war bei seinem Amokflug 27.

David Healy: Es gibt überzeugende Belege in Form von klinischen Studien dafür, dass Mirtazapin das Suizidrisiko erhöht - und zwar bezogen auf alle Altersgruppen, wobei die Daten für die 40-, 50- und Anfang 60-jährigen zum Beispiel genauso solide sind wie die für die unter 25-jährigen.

Und wie wäre dann die Produktbeschreibung zu Mirtazapin zu erklären?

David Healy: Die Medikamentenhersteller verwenden sehr viel Sorgfalt darauf, in ihren Produktbeschreibungen die Dinge auf eine Art und Weise zu formulieren, dass die Aufmerksamkeit von ihren Produkten weggelenkt wird. Dies scheint oft eher das primäre Ziel zu sein, als Ärzte und Patienten solide zu informieren. Dabei behaupten die Unternehmen auch gerne, es bestünde nicht die Notwendigkeit, Daten anzuführen, solange die Daten nicht statistisch signifikant seien. Doch durch diese Vorgehensweise lassen sie Datenmaterial außen vor, das einen sehr klaren Anstieg des Suizidrisikos aufzeigt - wie dies etwa bei den Daten zu Mirtazapin der Fall ist.

"Zusammenhänge nicht nur bei Affekthandlungen, sondern auch bei geplanten Akten"

Ein Einwand gegen die These, dass Antidepressiva wie SSRIs oder vergleichbare Medikamente gewalttätig machen oder gar zu Wahnsinnstaten wie die von Andreas Lubitz führen können, ist, dass gesagt wird, sie könnten allenfalls Taten, die im Affekt begangen werden, begünstigen, aber nicht solche, die geplant worden sind, so wie es bei Lubitz der Fall war.

David Healy: SSRIs stehen bei weitem nicht nur mit Affekthandlungen in Zusammenhang, sondern sehr wohl mit im Voraus geplanten Akten von Gewalt. Und es ist allgemein anerkannt, dass sie zu emotionaler Abstumpfung führen und dies macht es möglich, Dinge wie Mord in Erwägung zu ziehen, bei denen man normalerweise zu viel Angst hat, um sie ins Auge zu fassen.

Aber ist Lubitz da nicht eine Ausnahme von einer Person, die unter Medikamenteneinfluss einen Amoklauf im Voraus geplant hat?

David Healy: Nein, denn nicht nur Lubitz hat, wie berichtet wurde, seinen Kamikazeflug lange und umsichtig geplant. Viele Massaker in Schulen, Universitäten oder anderen öffentlichen Plätzen legen Zeugnis davon ab. So besagt etwa der Abschlussbericht zum "school shooting" von Adam Lanza, der am 14. November 2012 rund 100 km nordöstlich von New York seine Mutter sowie 20 Kinder und sechs Angestellte einer Grundschule und abschließend sich selbst erschoss, eindeutig, dass er seinen Amoklauf im Voraus geplant hatte, darunter auch seinen Suizid.
Oder nehmen wir den tragischen Fall von David Carmichael, der berichtet, dass bei ihm Selbstmordgedanken aufkamen einige Tage, nachdem er begonnen hatte, das SSRI-Antidepressivum Paxil zu nehmen. Drei Tage später begann er dann damit, seinen Suizid zu planen. Doch dann schwenkte er um und plante nicht mehr, sich selbst zu töten, sondern einen Mord zu begehen. Am 31. Juli 2004 brachte er schließlich seinen 11-jährigen Sohn um.

Der "Batman shooter" James Holmes

Gilt das auch für den Amokläufer James Holmes, der am 7. August zu lebenslanger Haft verurteilt wurde ohne Aussicht auf Bewährung?

David Healy: Kürzlich, Mitte Juli, befanden Geschworene in den USA "Batman shooter" James Holmes des Mordes ersten Grades für schuldig. Und einschlägige Quellen belegen, dass Holmes seinen Amoklauf systematisch geplant hatte, und zwar Monate im Voraus. Holmes erlangte unrühmliche Berühmtheit als "Batman Shooter", da er am 20. Juli 2012 in Aurora in Colorado bei einer Kinopremiere des Batman-Films "The Dark Night Rises" 12 Menschen getötet und 70 verletzt hatte.
Doch das Bild, was von Holmes in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, ist nicht korrekt. Denn Holmes hatte keinen Plan, irgendjemanden zu töten, bis ihm sein Arzt am 21. März 2012 das SSRI-Antidepressivum Zoloft verschrieb. Dies geschah vier Monate vor seiner Wahnsinnstat. Und in dieser Zeit wurde die tägliche Dosis Zoloft stufenweise von 50 mg auf 100mg und schließlich auf 150mg am Tag erhöht. Und Holmes ging es nicht nur jedesmal schlechter, wenn er die Dosis verändert hat. Auch scheint es, dass bei ihm seine Pläne, anderen Menschen Gewalt antun zu wollen, genau dann begannen sich herauszukristallisieren, als die Zoloft-Dosis erhöht wurde.

Wie ist James Holmes mit der Situation umgegangen?

David Healy: Während er Medikamente wie das SSRI-Antidepressivum Zoloft genommen hat, hat er soweit er konnte versucht, andere auf seine speziellen Pläne, Menschen Schaden zuzufügen, aufmerksam zu machen - doch niemand hat die Veränderungen in ihm registriert. Holmes bezeichnet sich selbst als jemand, der eine manische Dysphorie[4] entwickelt hat - was eine gute Beschreibung einer durch Zoloft ausgelösten Akathasie, auch Sitzunruhe genannt, ist.
Auch berichtet Holmes von einer eindeutigen emotionalen Abstumpfung, die er bei sich wahrgenommen hat und die andauerte, nachdem er die Medikamenteneinnahme gestoppt hatte. Bei dieser Art von Absetzungserscheinung handelt es sich um ein gut dokumentiertes Phänomen.

Wann hat er aufgehört, Zoloft zu nehmen?

David Healy: Irgendwann um den 30. Juni 2012 herum, also rund drei Wochen, bevor er seinen Amoklauf vollzog. Wohlgemerkt stoppte er die Zoloft-Einnahme abrupt, und zwar von einer ziemlich hohen Dosis aus: 150 mg am Tag. Dabei war ihm auch nicht bewusst, dass Zoloft abhängig machen oder nach einer abrupten Absetzung Entzugserscheinungen hervorrufen kann. Durch das Absetzen von Zoloft wurde er verwirrt - und er war sowohl stärker als auch weniger stark depressiv. Auch wurde er emotional labil - er selbst redete in diesem Zusammenhang von einer dysphorischen Manie.
Und das verringerte Angstgefühl, das er verspürte, als er Zoloft nahm, bestand weiterhin, als er das Präparat absetzte. Viele Patienten erleben selbst viele Monate, nachdem sie ein SSRI-Antidepressivum abgesetzt haben, eine fortgesetzte emotionale Abstumpfung oder auch Depersonalisierung, also den Verlust oder die Abtrennung von den eigenen Gedanken und Gefühlen.
In einem Artikel der Nachrichtenagentur Associated Press vom 8. August heißt es allerdings, Holmes hätte einem Psychiater "erzählt, dass er schon seit seinem zehnten Lebensjahr heimlich von Mordgedanken besessen gewesen war".

 Das erweckt den Eindruck, dass in ihm das Potenzial einer Killermaschine schon in jungen Jahren angelegt war.

David Healy: Es ist nicht korrekt, dass Holmes bereits mit 10 Jahren von Mordgedanken "besessen" war. Bis kurz vor März 2012, als er in eine Klinik ging - was vier Monate vor seinem Amoklauf in Aurora im US-Bundesstaat Colorado stattfand -, wurde er von keinem Nervenleiden geplagt. Zu diesem Zeitpunkt war er 24. Erst als er im März 2012 Zoloft nahm, entwickelte er neue Gedanken mit dem Fokus darauf, die Möglichkeit spezieller mörderischer Taten durchzuspielen.
Diese Gedanken waren nicht dieselben wie die vagen Ideen davon, andere zu töten, die er zuvor hatte, wie ich auch in meinem am 15. August dieses Jahres veröffentlichten Kommentar zum Holmes-Fall darlege: "Der Mann, der denkt, er ist ein Monster: Sertralin [= Zoloft] und Gewalt."
Vor diesem Hintergrund könnte man sich fragen, wieso das Verteidigerteam von James Holmes nicht das SSRI-Antidepressivum Zoloft als möglichen Auslöser seines Amoklaufs vor Gericht ins Spiel gebracht hat, zumal es ja schon Gerichtsurteile gibt, bei denen Psychopharmaka wie Antidepressiva sozusagen "schuldig" gesprochen wurden für einen Suizid oder Mord (vgl. hier oder hier oder hier). Brian N. Connors, oberster stellvertretener staatlicher Pflichtverteidiger des Büros der staatlichen Pflichtverteidiger in Denver im US-Bundesstaat Colorado, ließ dazu auf Nachfrage[5] verlauten: "Weder Herr Holmes noch einer seiner Verteidiger wird mit Journalisten über den Fall reden."

Was könnte aus Ihrer Sicht der Grund dafür sein, dass Holmes‘ Anwälte die "Zoloft-Karte" nicht ausgespielt haben?

David Healy: Das Gesetz ist, was medikamentenbezogene Sachverhalte angeht, nicht eindeutig - und Rechtsanwälte sind, was diesen Punkt angeht, sogar noch verunsicherter. Für sie ist es schwierig, zwischen einer psychischen Erkrankung und medikamentenbedingten Zuständen zu unterscheiden - und sie wissen auch nicht, wie sie diese Dinge den Geschworenen erklären könnten.
Das Verteidigerteam von Holmes fokussierte sich darauf darzulegen, dass James Holmes seinen Amoklauf deswegen begangen hat, weil er eine psychisch kranke Person war, die einen psychotischen Zusammenbruch erlitten hatte. Dadurch entkam Holmes letztlich der Todesstrafe und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Denken Sie, Holmes Anwälte hätten mehr für ihn erreichen können, wenn sie das SSRI-Antidepressium Zoloft als entscheidenden oder bedeutenden auslösenden Faktor für die Wahnsinnstat ins Spiel gebracht hätten?

David Healy: James Holmes hatte eine gute Verteidigung, was die Medizinaspekte angeht, doch weder das Gesetz noch das Rechtssystem bieten eine adäquate Grundlage für derlei Sachverhalte.
In dem erwähnten Associated-Press-Artikel heißt es auch: "Wie schon in vorherigen gerichtlichen Sitzungen zeigte Holmes, der unter dem Einfluss antipsychotischer Medikamente stand, die seine Antworten betäuben, keine Reaktion [,als das Urteil verkündet wurde]."

Doch wie kann es sein, dass Holmes mit Antipsychotika behandelt wurde, die sogar eine gehirnschädigende Wirkung haben und die "seine Antworten betäuben", wo man doch annehmen sollte, dass eine angeklagte Person nicht noch zusätzlich durch die Medikation "benebelt" werden sollte, um bestmöglich in der Lage zu sein dazu beizutragen, die Gründe für den Hergang eines Amoklaufs zu erhellen?

David Healy: Das Problem ist hier, dass es der behandelnde Arzt ist, der darüber entscheidet, welche Medikamente gegeben werden - die Anwälte haben hier nur geringes Mitspracherecht. Ich sah keinen klinischen Grund, bei Holmes die Behandlung mit diesen Medikamenten fortzusetzen.

"Es muss einen auslösenden 'Umweltfaktor' geben für die 'modernen' Amokläufe"


Doch wenn Medikamente wie SSRI-Antidepressiva Menschen dazu veranlassen können, sich selbst zu töten oder gar Massentötungen zu begehen, warum ist in solchen Fällen niemandem im Vorwege etwas aufgefallen, was das Verhalten der Täter angeht?

David Healy: Im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen wie LSD lassen Antidepressiva die Patienten nicht notwendigerweise verhaltensauffällig werden. Tatsächlich verhalten sich viele Menschen, denen Antidepressiva verabreicht werden, im Wesentlichen normal. Und selbst bei der Erstellung eines Persönlichkeitsprofils erscheinen sie als "normal".
Nehmen wir das Beispiel von Tim Kretschmer, der bei seinem Amoklauf im Jahr 2009 in Winnenden in der Nähe von Stuttgart 15 Menschen und schließlich auch sich selbst tötete. Der damals 17-jährige hatte unter einer Depression gelitten und Medikamente erhalten und war in diesem Zusammenhang in klinischer Behandlung.[6] Dennoch war, wie Medien berichteten, selbst den Schulpsychologen nichts aufgefallen, ja sie kamen gar zu dem Ergebnis, dass Tim für sein Alter ein "normaler Schüler" gewesen sei.

Der Konsum von Psychopharmaka und insbesondere Antidepressiva hat in Deutschland und anderen Industrieländern stark zugenommen. In den USA nimmt mittlerweile sogar jeder Vierte - insgesamt fast 80 der knapp 320 Millionen Amerikaner - psychoaktive Arzneimittel ein, und ungefähr die Hälfte davon - rund 41 Millionen Bürger - nehmen Antidepressiva. Müssten wir nicht, wenn Psychopharmaka tatsächlich mit Amokläufen in ursächlicher Verbindung stehen, noch viel mehr solcher Wahnsinnstaten erleben?

David Healy: Die Zahl derjenigen, die als Täter in solch irrsinnige Tötungsdelikte involviert sind, hat ja in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Und Phänomene wie willenlose Erschießungen an Schulen, Universitäten oder militärischen Einrichtungen, bei denen kein krimineller Hintergrund wie Raub erkennbar ist, gab es vor den 1980er Jahren praktisch nicht - jedenfalls bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie wir es insbesondere in den vergangenen 20 bis 30 Jahren erlebt haben.
Folglich muss es hier einen auslösenden "Umweltfaktor" geben für diese "modernen" Amokläufe. Im Übrigen ist zum Beispiel auch bei den US-Streitkräften die Selbstmordrate stark angestiegen und hat ein Rekordniveau erreicht - und parallel dazu hat unter den Soldaten der Konsum von Antidepressiva drastisch zugenommen, darunter von bekannten Präparaten wie Prozac, Zoloft, Paxil, Celexa und Lexapro.

Bei welchen Patienten können die Gewaltprobleme besonders beobachtet werden?

David Healy: Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Patienten, die am stärksten dazu beitragen, dass mittlerweile so viele Menschen Antidepressiva nehmen, diejenigen sind, die süchtig sind nach diesen Präparaten. Derzeit sind nicht weniger als neun von 10 Menschen, die jedes Jahr Antidepressiva einnehmen, von diesen Medikamenten abhängig. So rührt der insbesondere in den USA während der vergangenen ein oder zwei Jahrzehnte zu beobachtende Anstieg von Menschen, die Antidepressiva nehmen, von denjenigen her, die am Ende eines jeden Jahres die Medikamenteneinnahme beibehalten.
Dies tun sie meist deshalb, weil sie süchtig nach den Pillen sind. Doch diese Gruppe von Patienten ist nicht diejenige, bei der mörderische oder Selbstmordgedanken auftreten. Denn durch Antidepressiva bedingte Gewalt ist in der Regel dann zu beobachten, wenn mit der Einnahme der Präparate begonnen wird oder wenn es durch das Absetzen zu Entzugserscheinungen kommt. Das heißt, man muss sich anschauen, wie häufig Tötungsakte oder Massentötungen zu einer bestimmten Zeit sind - und das dann nicht etwa mit der Zahl der Patienten vergleichen, die in einem konkreten Jahr Antidepressiva nehmen, sondern eben mit der Zahl derjenigen, die die Einnahme gestartet oder mit Absetzungserscheinungen zu kämpfen haben.
Während es heute nicht viel mehr Patienten gibt, die mit der Einnahme von Antidepressiva beginnen, als Mitte der 1990er Jahre, so ist sehr wohl die Zahl die Antidepressiva-"Neulinge" im Laufe der 1980er Jahre markant gestiegen, vor allem in den USA - und diese Zunahme korrespondiert mit dem dortigen starken Zuwachs an Massentötungen ohne speziellen kriminellen Hintergrund wie Schul- oder Kinomassaker in den 80er Jahren. Seit den 1990er Jahren ist die Zahl dieser jährlich zu beobachtenden Massentötungen dann mehr oder weniger konstant.

Gegenläufige Expertenmeinungen


Ist eine vergleichbare Parallele auch bei Flugzeugunglücken bzw. bei Amokflügen von Piloten zu beobachten?

David Healy: Lubitz hatte offenkundig das Problem, dass er von der Idee besessen war, er müsse die medikamentöse Behandlung unbedingt fortsetzen, um nicht seinen Job zu verlieren. Und wenn die betroffenen Menschen durch ihre Ärzte oder die Umstände dahin getrieben werden, die medikamentöse Behandlung unbedingt fortzusetzen, obgleich die Therapie eigentlich nicht wirklich zu ihnen passt, dann ist damit die Grundlage dafür gelegt, dass die Situation irgendwann eskalieren kann.
Im Übrigen gibt es gute Belege dafür, dass amerikanische Absturzermittler bei einer bedeutenden Zahl von Flugzeugunglücken, bei denen die Piloten unter dem Einfluss von Antidepressiva gestanden hatten, den Medikamenten eine gewisse Mitschuld gaben. Allerdings war dies nur bis zum Jahr 2010 so. Denn in diesem Jahr wurde es offiziell genehmigt, dass Piloten Antidepressiva nehmen dürfen. Und seither hören wir nichts mehr über Flugzeugabstürze, bei denen darüber nachgedacht wird, ob Antidepressiva ursächlich eine Rolle gespielt haben könnten.

Der Psychiater Rainer Holm-Hadulla von der Universität Heidelberg zum Beispiel sagt jedoch auf Nachfrage, dass "es durch nichts belegt oder wahrscheinlich gemacht ist, dass Antidepressiva gewalttätiges Verhalten deutlich begünstigen" - und seiner Meinung nach sei es auch "höchst unwahrscheinlich", dass derart "massive Gewalttaten durch solche Medikamente bedingt werden".[7]

David Healy: Wenn die Medien darüber berichtet hätten, dass Andreas Lubitz "Straßendrogen" wie Amphetamine, Kokain oder LSD genommen oder sogar reichlich Alkohol getrunken hatte, bevor er ins Flugzeug stieg, dann hätten viele Menschen - darunter auch etliche Ärzte - wohl keine Probleme gehabt mit der Vorstellung, dass diese Drogen die maßgebliche Ursache für die Katastrophe waren oder zumindest entscheidend zu ihrer Entstehung beigetragen haben.
Das heißt, Ärzten und anderen widerstrebt es in erster Linie deswegen daran zu denken, dass die Medikamente die Probleme ausgelöst haben könnten, weil eben von Psychopharmaka die Rede ist - und dies, obgleich derlei Medikamente ziemlich identisch sind mit den illegalen Drogen, die in den 1960er Jahren vor allem deswegen verboten wurden, weil sie aggressiv und gewalttätig machen und andere problematische Verhaltensweisen verursachen können.

Der Psychiater Henning Saß, Vorsitzender des Beirats der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), sagt aber auf Nachfrage, dass ihm während seiner "jahrzehntelangen Patientenbehandlung" im Zusammenhang mit SSRI-Antidepressiva "Nebenwirkungen in Form von Gewalthandlungen nicht bekannt geworden sind".[8]

David Healy: Das klingt außergewöhnlich. Nehmen wir das Beispiel der BBC, die im Rahmen ihrer investigativen Sendung Panorama über den Themenkomplex SSRI-Antidepressiva, Gewalt und Suizide berichtete - und darüber, wie Firmen versuchen, hier Probleme unter den Teppich zu kehren. Die Reaktionen auf die Dokumentation mit dem Titel "The Secrets of Seroxat" - das SSRI-Antidepressivum Seroxat ist auch unter dem Handelsnahmen Paxil bekannt ist - waren beträchtlich.
Inwiefern?

David Healy: Die Redaktion erhielt 1.374 E-Mails von Zuschauern, die meisten davon waren Patienten. Und einem meiner Forscherkollegen, Andrew Herxheimer, war es gelungen, diese Zuschriften in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Demnach brachten viele Einsender ihre emotionalen Ausbrüche, ihre gewalttätigen Gedanken und Gewaltakte oder ihr selbstverletzendes Verhalten mit dem SSRI-Antidepressivum Paroxetin, also Paxil, in Verbindung - und zwar sowohl bei Beginn der Einnahme als auch dann, wenn die Dosis verändert wurde.
Dabei handelte es sich wohlgemerkt nicht um bloße anekdotische Erzählungen, denn die Analyse zeigte klar auf, dass ein Zusammenhang bestand zwischen dem gewalttätigen Verhalten und der verabreichten Medikamentendosis. Auch waren es persönliche Berichte über Gewalttaten von Patienten, die keine erkennbare Historie gewalttätigen Verhaltens hatten.
Darüber hinaus stand die Analyse im Einklang mit einer Auswertung von Berichten über gewalttätige Gedanken und Gewaltakte oder Selbstverletzungen bei der Einnahme von Paroxetin bzw. Paxil, die Ärzte an die Aufsichtsbehörde für Arzneimittel in Großbritannien, die MHRA, gemeldet hatten.

Warum machen Medien Psychopharmaka nicht zum Thema?


Wenn aber die Sachlage so klar ist, wieso machen dann selbst Medien wie die New York Times, der britische Guardian oder auch der Spiegel, die sich selbst als höchst investigativ einstufen, nicht Psychopharmaka zum Thema, wenn es darum geht, den Ursachen von Amokläufen à la Lubitz oder James Holmes auf die Spur zu kommen?

David Healy: Eine sehr gute Frage, die nach Antworten verlangt. Zunächst würde ich dazu sagen, dass der investigative Journalismus tendenziell langsam agiert, wenn es darum geht, das Konzernestablishment in Frage zu stellen - so geschehen etwa bei Themen wie Bleivergiftungen oder bei den Machenschaften der Lebensmittelindustrie. Die Sachlage bei einem bestimmten Fall muss schon sehr zwingend sein, bevor sich ein Journalist konkret an ihn heranmacht.
Dies gilt insbesondere auch für Medizinthemen - nicht zuletzt auch deswegen, weil auch Journalisten ja letztlich nur normale Menschen sind. Und die allermeisten von ihnen haben nach wie vor die Vorstellung verinnerlicht, Medikamente seien gewissermaßen "Magic Bullets", also "Wunderpillen", wie es etwa der Harvard-Forscher Allan Brandt in seinem Buch No Magic Bullet beschreibt.

Ist die erwähnte BBC-Dokumentation über Seroxat bzw. Paxil das einzige Ihnen bekannt Beispiel von einem größeren Medium, das sich an den Themenkomplex Psychopharmaka und Gewalt herangetraut hat?

David Healy: Nein. Erst kürzlich, am 14. Juli, berichtete die FAZ über die Auffälligkeit, dass die meisten jungen Amokläufer in Amerika, darunter der erwähnte "Batman shooter" James Holmes, unter dem Einfluss nebenwirkungsreicher Medikamente wie Antidepressiva stehen.
Auch der US-Neurochirurg Sanjay Gupta berichtet 2012 in seiner Eigenschaft als leitender Medizinkorrespondent von CNN darüber, was dahinter stecken könnte, dass junge Menschen zu regelrechten Killermaschinen werden. Aufhänger war das Massaker des 20-jährigen Adam Lanza, bei dem ja insgesamt 28 Menschen ums Leben kamen. Laut Gupta gelte es, die Frage zu bedenken, unter Einfluss welcher Medikamente er gestanden habe. "Wir reden hier im Speziellen über Antidepressiva", so Gupta.
"Wenn man sich die Studien anschaut und auch die anderen Amokläufe dieser Art, die geschehen sind, dann waren die Medikamente ein gemeinsamer Faktor. Und sie können zu erhöhter Impulsivität führen, zu vermindertem Urteilsvermögen und dazu, dass jemand den Kontakt verliert zur Realität."
Doch gerade bei "school shootings" wie dem von Adam Lanza wird ja argumentiert, dass Schusswaffen und der Zugang zu selbigen das Hauptproblem darstellten.

David Healy: Massentötungen gehen leichter mit einer Schusswaffe, doch Antidepressiva stehen auch mit grausamen Morden in Verbindung, die mit Messern oder anderen Tötungsinstrumenten begangen wurden. Abgesehen davon lag die Zahl der Morde, die in den USA mit Schusswaffen begangen worden sind, 1970 genauso hoch wie 2004, doch während 1970 rund 200 Millionen Menschen in den USA lebten, waren es 2010 in etwa 300 Millionen.
Relativ betrachtet gab es in den USA also vor vier bis fünf Jahrzehnten mehr Morde mit Schusswaffen als heute, aber praktisch noch keine Amokläufe mit Schusswaffen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch eine Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2013, die aufzeigt, dass Morde und Gewalttaten, bei denen Schusswaffen verwendet wurden, in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 20 Jahren deutlich zurückgegangen sind. Doch gerade in diesen zwei Dekaden ist die Zahl der Massenerschießungen ohne kriminellen Hintergrund stark angestiegen.
Zwar verfügte die US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA - die Food and Drug Administration - im Jahr 2004, dass auf den Beipackzetteln von Antidepressiva noch mal explizit, und zwar in Form einer so genannten Black-Box-Warnung[9], vermerkt wird, dass sie die Suizidgefahr erhöhen.[10] Doch für eine erhöhte Gefahr für Gewalthandlungen oder gar Tötungsdelikten hat die FDA bis dato noch keine solche Black-Box-Warnung angeordnet. Grund: Es gebe keine Daten, die einen solchen Warnhinweis rechtfertigen würden, so die FDA auf Nachfrage.

David Healy: Beweise dafür, dass Antidepressiva Gewaltakte auslösen können, existieren zweifelsohne.

Wie aber ist dann die fehlende FDA-Verfügung zu erklären?

David Healy: Vielleicht hat die FDA den Schluss gezogen, dass es in den USA politisch unmöglich ist, eine Anhörung über einen Zusammenhang von Antidepressiva und Gewalttaten abzuhalten. Und abgesehen von den Daten aus klinischen Versuchen liefert nicht zuletzt auch das FDA-eigene freiwillige Meldesystem für Medikamentennebenwirkungen, die so genannte MedWatch-Datenbank, solide Beweise dafür, dass Antidepressiva und Gewaltakte in Verbindung stehen.

Inwiefern?

David Healy: Ein Team um den Harvard-Psychiater Joseph Glenmullen wertete in einer Studie diese MedWatch-Datenbank aus: Im Ergebnis entstand eine Liste von 31 Medikamenten, in deren Zusammenhang bereits über Fälle von Gewalt gegen andere Personen berichtet wurde, darunter auch viele Tötungsdelikte. 25 der 31 Medikamente waren Psychopharmaka, wiederum elf davon Antidepressiva. 

Das Präparat, das auf dieser Liste Platz 2 belegt und somit am zweithäufigsten mit Gewalttaten in Verbindung gebracht wurde, ist das SSRI-Antidepressivum Fluoxetin, das unter dem Handelsnamen Prozac bekannt ist. Paroxetin, ein anderes SSRI mit dem Handelsnamen Paxil, belegt Platz 3. Sprich, wenn die FDA ihr eigenes Datenmaterial anschauen würde, würde sie fundierte wissenschaftliche Belege dafür finden, eine entsprechende Black-Box-Warnung zu verfügen.

In diesem Zusammenhang machen Experten darauf aufmerksam, dass nicht einmal 1 Prozent aller ernst zu nehmenden unerwünschten Arzneimittelschäden berichtet werden. Kann man also schlussfolgern, dass die Zahl der Gewaltakte und Tötungsdelikte, die mit Medikamenten wie SSRI-Antidepressiva in Zusammenhang stehen, in Wirklichkeit 100 mal oder zumindest sehr viel höher liegt, als von den Statistiken ausgewiesen?

David Healy: Es ist wahr, dass die überwältigende Mehrzahl der Probleme, die Medikamente mit sich bringen können, nicht gemeldet wird. Und es stimmt auch, dass Probleme wie Gewalttaten oder asoziales Verhalten offenbar mit geringerer Wahrscheinlichkeit vermeldet werden, weil die Ärzte hier keine Verbindung herstellen. Aber es ist nicht möglich zu sagen, um wieviel größer die Problematik tatsächlich ist im Vergleich zu dem, was an Nebenwirkungen gemeldet wird.

Wie ist es dann zu erklären, dass Experte kürzlich sogar dafür plädierten, die 2004er Black-Box-Warnung der FDA, wonach Antidepressiva mit einem erhöhten Selbstmordrisiko verbunden sind, wieder zu streichen, weil diese "extrem fragwürdig und quasi bedeutungslos" sei?

David Healy: Die aggressive Kampagne mit dem Bestreben, diese Warnung auf den Beipackzetteln von Antidepressiva zu eliminieren, erinnern daran, wie Politiker und mächtige Wissenschaftler über Jahrzehnte die Gefahren von Substanzen wie Blei, Zigarettenqualm oder Asbest heruntergespielt bzw. negiert haben. Im Fall von Asbest zum Beispiel war es sogar so, dass es bereits um 1900 Hinweise auf dessen stark gesundheitsschädliches, um nicht zu sagen tödliches Potenzial gab. Generell verboten wurde der krebserregende Baustoff, der wohlgemerkt lange als "Wunderfaser" gefeierte worden war, aber erst rund 90 Jahre später.

"Gefühle von Wohlbefinden und Glück" - erfolgreiche SSRI-Antidepressiva?


Dennoch gibt es einen starken Glauben daran, dass gerade auch SSRI-Antidepressiva effektiv wirken. Es heißt, sie würden vor allem die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin in der Gewebsflüssigkeit des Gehirns erhöhen und somit Gefühle von Wohlbefinden und Glück erzeugen.

David Healy: Die Beweise dafür, dass SSRIs wirksam sind, stammen nicht von kontrollierten Versuchen, sondern von solchen, bei denen die negativen Ergebnisse unveröffentlicht geblieben sind - wobei die publizierten Studien nahezu alle nicht von den genannten Forschern selber, sondern von Ghostwritern geschrieben wurden, die ungenannt bleiben und letztlich von Pharmafirmen bezahlt werden. De facto gibt es keine wirklich solide Studie, die die Wirksamkeit von SSRIs aufzeigt.
Der Eindruck von der Wirksamkeit, den die Menschen haben, stammt daher, dass die Medien dies ständig so berichten. Und was SSRIs in Bezug auf die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin in der Gewebsflüssigkeit des Gehirns tatsächlich machen, ist in Wahrheit gar nicht bekannt, wie ich auch noch mal ausführlicher in meinem Artikel über Serotonin und Depression aufgezeigt habe, der kürzlich im Fachmagazin BMJ erschienen ist.

Das Magazin Time zum Beispiel hat über Ihren BMJ-Artikel berichtet. Doch darin wird Victor I. Reus, Professor für Psychiatrie an der University of California in San Francisco, mit folgenden Worten zitiert: Er denke, dass SSRIs "in vielen Fällen außergewöhnlich erfolgreich sind."

David Healy: Tatsächlich gibt es keine Studie, in der nachgewiesen werden konnte, dass ein SSRI-Antidepressivum wirksam ist. Es gibt zwar Untersuchungen, in denen ein gewisser Nutzen aufgezeigt werden konnte, doch das geschah lediglich auf Basis so genannter rating scales, bei denen ein Untersucher mithilfe von Fragenbögen auf einer Punkteskala beurteilt, wie schwer ein bestimmtes Symptom bei einem Patienten ausgeprägt ist. 

Das ist mit einer klinischen Studie nicht gleichzusetzen. Es gibt keine Studien, die belegen, dass es die SSRI-Antidepressiva waren, die die Betroffenen wieder arbeitsfähig gemacht oder gar Leben gerettet haben. Wenn Leute darüber berichten, dass sie sich besser fühlen, wenn sie SSRI-Antidepressiva nehmen, so ist das ungefähr damit gleichzusetzen, wenn Menschen erzählen, sie würden sich besser fühlen durch den Konsum von Alkohol oder die Einnahme von Amphetaminen.

Mentale Störungen als ursächlicher Faktor


Etablierte Psychiater scheinen auch viel eher die Karte der Persönlichkeitsstörung zu spielen, wenn es zu Amokläufen kommt. Der Psychiater Holm-Hadulla etwa stellte in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die These auf, der Germanwings-Amokpilot Lubitz könnte unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten haben, wodurch in ihm ein "kalter Hass" entstanden sei, der ihn schließlich zu seiner Tat, die mit einem "terroristischen Anschlag vergleichbar" sei, verleitete. Auch wenn Holm-Hadulla auf Nachfrage[11] konzediert, seine These sei nur eine "mehr oder weniger plausible Vermutung", ist es nicht sinnvoll über derlei psychische Störungen als auslösenden Faktor nachzudenken?

David Healy: Zunächst sehe ich hier erneut das Problem, dass die harten Fakten, die zur potenziellen Rolle von Medikamenten bei solchen Taten vorliegen, nicht in Betracht gezogen werden, während die Medien und Experten andererseits nicht zögern, sich in Spekulationen über mentale Störungen als ursächlichen Faktor zu ergießen. 

Im Übrigen hat Lubitz nach den Informationen, die mir vorliegen, nicht unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten, denn er scheint nicht die typischen Verhaltensweisen an den Tag gelegt zu haben, die mit einer solchen Störung einhergehen. Dazu zählt etwa, dass man übermäßig damit beschäftigt ist, andere zu beeindrucken, um von ihnen bewundert zu werden.

Wie steht es mit einem möglichen Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen?

David Healy: Lubitz dürfte auch nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen wie LSD gestanden haben, wobei die Untersuchungen diesbezüglich auch keine Hinweise ergeben haben. Doch ohne Frage sollten bei der Ursachenforschung alle Theorien in Betracht gezogen werden. Solange wir nicht wissen, unter welcher Art von mentaler Störung Lubitz genau gelitten hat, ist es unmöglich, sich hier exakt zu äußern.

Gibt es denn solide Studien, die aufzeigen, dass psychische Leiden wie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, eine Depression oder eine bipolare Störung als wesentlicher auslösender Faktor für einen Amokflug oder ein Schulmassaker in Frage kommen?

David Healy: Studien dieser Art existieren nicht. Und narzisstische Persönlichkeitsstörungen zum Beispiel lösen auch nicht solche Wahnsinnstaten aus.

Wenn man also alle zur Verfügung stehenden Fakten analysiert, sehen Sie dann, dass es noch eine andere plausible Erklärung geben kann für die Wahnsinnstat von Lubitz als die, dass er unter dem negativen Einfluss von Psychopharmaka wie SSRI-Antidepressiva gestanden hat?

David Healy: Nicht wirklich.

Kritiker sagen, dass die Psychiatrie voll ist von Interessenkonflikten, also voller Verbindungen zur Pharmaindustrtie. Wie schwerwiegend ist das Problem - und trägt es dazu bei, dass Psychiater zögern, die "Medikamenten-Karte" auszuspielen, wenn es zu Wahnsinnstaten wie der von Andreas Lubitz kommt?

David Healy: Das ist ein Faktor, und in der Tat hat die Psychiatrie ein Problem mit ihrer Nähe zur Pharmaindustrie. Man denke nur an den Umstand, dass die Altersbezüge der meisten Ärzte wahrscheinlich von der Performance der Pharmaaktien abhängen. Das heißt, dass die Pharmafirmen in Schwierigkeiten geraten, liegt nicht in ihrem Interesse. 

Was wir besonders bräuchten, sind Mediziner, die gewillt sind, eine gute medizinische Versorgung zu leisten, anstatt nur nach den Richtlinien von Gesundheitsmanagern zu agieren - und die sich dafür stark machen, dass die Nicht-Einnahme von Medikamenten eine Möglichkeit darstellt.

In Ihrem Artikel über Lubitz - Winging it: Antidepressants and Plane Crashes -, den Sie zu Beginn dieses Interviews erwähnten, führen Sie aus, dass viele Leute in der Pharmaindustrie seit langem gewusst hätten, dass so etwas wie der Kamikaze-Crash von Andreas Lubitz passieren kann. Warum haben diese Leute bzw. Firmen dann keine entsprechenden Maßnahmen getroffen?

David Healy: Die Pharmaindustrie weiß seit geraumer Zeit, dass Antidepressiva und andere Präparate eine ganze Reihe von Problemen verursachen können - von Selbstmord über Tötungsdelikte bis hin zu Geburtsfehlern und Entzugserscheinungen. Und sie haben zahlreiche Mechanismen eingeführt, um Sicherheit zu gewährleisten - und zwar die Sicherheit der Unternehmen.

Sie betreiben ein Business, das mit dem Ziel agiert, diejenigen Risiken zu minimieren, die das Wohl des Unternehmen gefährden könnten - und das sind eben zuvorderst Probleme, die durch Medikamente entstehen können. Diese Sicherheitspolitik steht im Widerspruch zur Sicherheit der Patienten, die mit diesen Medikamenten behandelt werden, oder der unschuldigen Menschen, die zu Opfern werden von diesen unter Medikation stehenden Personen.

Pharmaindustrie und Produktabsicherung


Sie kritisieren auch, dass viele Leute aus der Pharmaindustrie nichts dafür getan haben, ein System zu installieren, mit dem das Risiko eines "Kamikaze"-Flugzeugabsturzes oder eines Schulmassakers gemanagt werden kann - und dass auch nichts dafür getan wurde, ein System auseinanderzunehmen, das derartige Risiken in viel größerem Ausmaß erzeugt, als wir es tolerieren dürften. Was für ein System würden Sie installieren?

David Healy: Die Pharmaunternehmen haben die Art, wie sie für ihre eigene Sicherheit sorgen, in außerordentlicher Weise perfektioniert - mit der Folge, dass es sehr schwierig ist, ihre Medikamente mit Problemen in Verbindung zu bringen und dadurch womöglich Geldzahlungen zu erwirken oder die Firmen zu blamieren. Wenn man die Techniken anwenden würde, die die Industrie benutzt, um ihre Produkte abzusichern, wäre es nicht möglich gewesen, auf erfolgreiche Weise den Zusammenhang von Medikamenten und Amokläufen oder -flügen mit all ihren dramatischen Konsequenzen zu ignorieren.

Können Sie spezifizieren, welche Techniken der Industrie zur Produktabsicherung Sie meinen?

David Healy: Die Unternehmen haben bereits vor langer Zeit gelernt, dass es im öffentlichen Diskurs gewissermaßen Wunder wirkt, wenn man zum Beispiel bei einer Thematik wie der, dass man ein Haus voller Kinder niedergebombt hat, einfach leugnet, man hätte etwas damit zu tun gehabt - und dann etwa die These hinterherschiebt: Wer weiß, ob die Kinder nicht mit Sprengstoff gespielt haben? Hier wird sehr kunstvoll vorgegangen.
Die Vorgehensweise des Pharmaunternehmens Grünenthal beim Contergan-Skandal, der Anfang der 1960er seinen dramatischen Höhepunkt erreicht hatte und der von Intransparenz, Leugnungen und Beschwichtigungen gekennzeichnet war, macht klar, dass selbst bei der Holocaust-Leugnung derartige Strategien angewendet werden. Ich halte Vorträge zu diesem Thema vor Fachgruppen. Darin geht es typischerweise darum, die Details offen zu legen, wie die Industrie unter dem Stichwort "Holocaust-Leugung" agiert.

Auch in heutiger Zeit passiert es allerdings, dass das System im Sinne des Endverbrauchers funktioniert. So gibt es ja sogar Gerichtsfälle, in denen ein Medikament gewissermaßen schuldig gesprochen wurde bzw. in denen Schuld von einer Person genommen wurde, die unter Medikamenteneinfluss etwa ein Tötungsdelikt begangen hat. Was waren hierfür die entscheidenden Punkte?

David Healy: Glück und der Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines 60-jährigen Mannes, der Episoden von Angst und Depressionen durchmachte. Diese verleiteten ihn wohlgemerkt nicht zu Selbstmordabsichten, aggressivem Verhalten oder anderen ernstzunehmenden verstörenden Handlungen. Doch dann begann sein Arzt damit, ihm das SSRI-Antidepressivum Prozac zu verabreichen.
Der Mann reagierte eindeutig auf das Präparat, indem er etwa aufgewühlt und ruhelos wurde und auch halluzinierte. Die Situation verschlechterte sich sogar innerhalb von drei Wochen, obwohl er zusätzlich das Psychopharmakon Trazodon und den Betablocker Propranolol verschrieben bekam, und zwar mit der ursprünglichen Absicht, dass dadurch die Nebenwirkungen des SSRI-Antidepressivums Prozac minimiert würden.

Und bei ihm wurden die Medikamente dann nicht abgesetzt?

David Healy: Einige Jahre später verschrieb ihm ein neuer Hausarzt, dem die durch Prozac bedingten Nebenwirkungen nicht bekannt waren, das SSRI-Antidepressivum Paxil. Nur zwei Tage später nahm sich der Mann ein Gewehr und feuerte drei Kugeln ab, und zwar eine durch den Kopf seiner Frau, eine durch den Schädel seiner Tochter, die gerade zu Besuch war, und eine durch das Haupt seiner neun Monate jungen Enkeltochter - um sich anschließend selbst zu töten.
Drei Jahre später befanden die Geschworenen bei einem Prozess im US-Bundesstaat Wyoming, der von dem Schwiegersohn des Mannes initiiert worden war, dass Paxil "einige Menschen dazu bringen kann zu töten oder sich selbst umzubringen."

Und was passierte mit dem Macher von Paxil?

David Healy: Das Pharmaunternehmen SmithKline Beecham, das heute GlaxoSmithKline heißt, wurde zu 80 Prozent für die sich ergebenden Ereignisse verantwortlich gemacht.[12] Das urkundliche Beweismaterial beinhaltete eine nicht publizierte Unternehmensstudie, die bei 80 Patienten stark aggressives Verhalten dokumentierte, wobei es in 25 dieser Fälle zu Tötungsdelikten kam.

Im Zusammenhang mit dem Amokflug des Gemanwings-Co-Piloten Andreas Lubitz präsentierte die Europäische Flugaufsichtsbehörde EASA am 17. Juli einen Forderungskatalog. Demnach sollen sich Piloten während der Ausbildung oder auch bevor sie ihren Job antreten, psychologischen Tests unterziehen. Und das Blut der Piloten soll auf Spuren von Alkohol und Drogen getestet werden. Zudem diskutieren die EASA-Verantwortlichen auch die Möglichkeit, das Blut nach Spuren von Psychopharmaka zu untersuchen. Sind derlei Maßnahmen zielführend?

David Healy: Ich denke, diese Art von Tests sind irrelevant. Viele Menschen, die Antidepressiva nehmen, verhalten sich, wie gesagt, absolut normal, und auch bei der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen werden sie ja als "normal" eingestuft. Solange also keine Akzeptanz dafür existiert, dass die Medikamente Probleme verursachen können, und es auch keine speziellen Fragen gibt, die darauf abzielen zu klären, ob die Präparate wirklich helfen oder Probleme verursachen, werden die Tests keine Hilfe sein.

Angehörige der Opfer der Germanwings-Katastrophe lehnen das niedrige Angebot der Lufthansa in Höhe von 25.000 € je Opfer ab und fordern - neben persönlicher Anteilnahme und einer Entschuldigung - einen Entschädigungsbetrag in Höhe von 200.000 € für jeden Toten. Nun will man sogar in den USA vor Gericht ziehen, wo Hinterbliebene gerne das Zehnfache der in Deutschland üblichen Beträge erhalten. Denken Sie, dass die Hinterbliebenen darüber nachdenken sollten, in diesem Zusammenhang die mögliche Rolle der Medikamente, unter dessen Einfluss Lubitz gestanden hat, juristisch ins Spiel zu bringen?

David Healy: Wenn ich ein Angehöriger eines der Opfer wäre und meinen würde, eine Pharmafirma hätte Daten zurückgehalten, die aufzeigen, dass ein bestimmtes Präparat das Risiko für einen solchen Amokflug erhöht - ich wäre sicherlich rasend vor Wut.

Nachtrag:
Wie der Focus kürzlich berichtete, hat der Berliner Anwalt Elmar Giemulla, der 39 Familien der Opfer vertritt, "einen Weg für eine Klage in den USA gefunden". Der Luftfahrtrechtler bereitet demnach "eine Kooperation mit US-Anwälten" vor, um den deutschen Branchenführer in Übersee auf viel höhere Entschädigungen zu verklagen als hierzulande üblich. Im Erfolgsfall, so US-Opferanwalt Michael Danko, "können die Familien jeweils mit Millionen von Dollar rechnen."
Normalerweise verhindert das Luftfahrtabkommen von Montreal, dass geschädigte Passagiere oder deren Hinterbliebene sich das Land mit den höchsten Schmerzensgeldtarifen für einen Prozess aussuchen können. Anwalt Giemulla ist sich indes sicher, dass er einen Pfad gefunden hat, "um die Fesseln des Montrealer Abkommens abstreifen zu können".





Sonntag, 20. September 2015

DER SPIEGEL: Germanwings-Copilot Andreas Lubitz nahm SSRI- Antidepressiva

In der SPIEGEL-Ausgabe vom 19.09.2015 wird darüber berichtet, dass in der Wohnung von Andreas Lubitz, dem Copiloten der Germanwings-Maschine 4U9525, die in den französischen Alpen zerschellte und 150 Menschen in den Tod riss, SSRI-Antidepressiva gefunden wurden. Es ist  von Escitalopram und Citalopram die Rede. 

Hat möglicherweise die Einnahme dieser Medikamente die Psyche des Copiloten  destabilisiert und den Suizid ausgelöst? Über diese Möglichkeit wurde auch schon in der Wissenschafts-Sendung nano vom 10.06.2015 diskutiert, in der auch über den Fall meiner Frau Monika berichtet wird:

Samstag, 19. September 2015

Todesfälle in der Zulassung verschleiert - Deutsche Aufsichtsbehörde sieht kein Fehlverhalten.


Diese Tage veröffentlicht die US-Ausgabe der Huffington Post eine Serie über die Vermarktungspraktiken des US Pharmaunternehmens Johnson & Johnson bei der Einführung des Medikamentes Risperdal (siehe HuffPost ).
Obwohl die US Aufsichtsbehörde FDA dem Unternehmen ausdrücklich untersagt hatte, damit zu werben, dass das Mittel bei dementen alten Menschen und bei schwererziehbaren Kindern wirksam ist, wurde es in Alten- und Kinderheime verabreicht und die zuständigen Ärzte korrumpiert.

Derartige Dinge sind auch in Deutschland passiert. Die folgende Story erzählt davon, dass
Staatsanwaltschaften und auch die deutsche Aufsichtsbehörde BfArM die Augen verschließen, wenn namhafte Pharmaunternehmen Risiken verschleiern und gegen Gesetze und Bestimmungen verstoßen. Was ich hierbei in den letzten 10 Jahren erlebt habe, ist wirklich unglaublich aber leider wahr. Staatsanwälte haben trotz Anzeige nicht ermittelt und Akten nicht rechtzeitig weitergereicht. Aufsichtsbehörden erklären sich nicht für zuständig und schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Und die Krone des ganzen sind Richter, von denen man sich üble Beschimpfungen gefallen lassen muss und als Querulant hingestellt wird, wenn man seine Rechte auf Informationsauskunft wahrnehmen möchte und einen Vergleich ablehnt.


Todesfälle in der Zulassung verschleiert - Deutsche Aufsichtsbehörde sieht kein Fehlverhalten.


Im letzten Jahr machte die deutsche Arzneimittelaufsichtsbehörde BfArM Schlagzeilen, als sie
die Zulassung von 80 Generika-Medikamenten ruhen ließ. Diese Medikamente durften fortan
nicht mehr von den Apotheken ausgegeben werden. Was war geschehen, das eine derart
drastische Maßnahme rechtfertigt? Dieser Schritt war notwendig geworden, nachdem
französische Aufsichtsbeamten bei einer Überprüfung von Studie des indischen
Auftragslabors GSK-Biosciense feststellten, dass massenhaft Studien von Generika gefälscht
wurden. Da die Sicherheit und Verträglichkeit der getesteten Mittel nicht mehr gewährleistet
werden konnte, blieb der Aufsichtsbehörde in Deutschland gar nichts anderes übrig, als die
fraglichen Medikamente aus dem Verkehr zu ziehen. Ansonsten hätte sie sich angreifbar
gemacht und ihre Aufsichtspflichten verletzt.

Doch was ist mit den vielen hundert Medikamenten, die bereits zugelassen und auf dem Markt
sind, wenn bei denen nachträglich gravierende Risiken bekannt werden oder sich herausstellt,
dass Risikodaten in den Zulassungsunterlagen auf beinahe kriminelle Weise manipuliert
wurden? Wenn derartige Versäumnisse der Aufsicht bekannt würden, würde man da nicht
auch erwarten können, dass die Zulassungen entsprechend überprüft und Risiken und Nutzen
unabhängig und neu bewertet werden?

Beispiel: SSRI Antidepressiva

Dass dies leider nicht so ist, und Medikamente trotz erheblicher Risiken und nur geringen
Nutzensweiter zugelassen sind, dafür lassen sich zahlreiche Beispiele angeben. Ein
gravierendes Beispiel hierzu sind die Antidepressiva, insbesondere die SSRI Antidepressiva.
Diese Medikamentengruppe , über die regelmäßig immer wieder in den Medien berichtet wird -
zuletzt nach dem Germanwings-Absturz- , steht schon seit deren Zulassung in den 80er und
90er Jahren in dem Verdacht, dass sie das Suizidrisiko bei Depressionen vergrößern und
Gewalttaten auslösen können. Als sich dieser Verdacht erhärtete und durch Gerichtsverfahren
und durch die öffentliche Berichterstattung der Druck zunahm, wurden 2005 die
Packungsbeilagen und Fachinformationen entsprechend geändert. Seitdem weisen sie darauf
hin, dass die SSRI Antidepressiva das Risiko suizidaler Handlungen bei Kindern, Jugendlichen
und jungen Erwachsen erhöhen können.


Da der Nutzen dieser Medikamente nach allgemeiner Erkenntnis jedoch nur gering ist - was
z.B. auch Prof. Löwer, der frühere Leiter der deutschen Aufsichtsbehörde BfArM in einem
Interview 2008 in den Tagestheme kleinlaut eingestehen musste, nachdem Studien dies belegt
haben- , stellt sich grundsätzlich die Frage, ob hier das Risiko-Nutzenverhältnis noch positiv
ist, oder ob die SSRI Antidepressiva nicht als bedenklich gelten müssen und denen somit die
Zulassung entzogen werden müsste. Doch eine Überprüfung des Nutzens und der Risiken hat
es in den letzten Jahren seit der Zulassung nicht gegeben. Dabei sollte das im Jahr 2004 neu
geschaffene IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) auch
den Nutzen der SSRIs überprüfen und hatte 2004 einen entsprechenden Auftrag vom
gemeinsamen Bundesausschuss erhalten. Doch dieser Auftrag wurde jahrelang zurück
gestellt bis er er im Jahr 2012 gänzlich aufgehoben wurde, da angeblich durch das neue
Arzneimittel-Neuordnunggesetz AMNOG die Rechtsgrundlage hierfür entfallen war. Auch eine
Petition von mir an den Bundestag zur Überprüfung der Risiken und des Nutzens vermochte
hieran nichts zu ändern. Da es der erklärte Wille der Großen Koalition war, was auch im
Koalitionsvertrag festgelegt wurde, dass sämtliche Medikamente, wenn sie einmal zugelassen
sind, nicht neu überprüft werden, wurde auch meine Petition zurückgewiesen.
Somit ist es fast nicht mehr möglich, dass zugelassene Medikamente ihre Zulassung verlieren
können, ganz gleich wie risikoreich und bedenklich sie in Wirklichkeit, was sich ja leider häufig
erst Jahre nach der Zulassung herausstellt, sind.

Was ist aber, wenn nachträglich herauskommt, dass die Risiken eines Medikamentes schon
bei der Zulassung dem Unternehmen bekannt oder zumindest erkennbar waren und durch
geschickte Datenmanipulation die Risiken verschleiert wurden? Was ist, wenn die Zulassung
durch Täuschung der Behörden erschlichen wurde und die Behörde Jahre später hiervon
Kenntnis erlangt? Müsste sie dann nicht handeln und das Medikament neu überprüfen? Ist
eine Zulassung auch dann noch rechtskräftig, wenn sie auf betrügerische Weise erlangt
wurde?

Im allgemeinen wird es fast nicht möglich sein, dies nachzuweisen, da nur das Unternehmen
und die Aufsichtsbehörde die Daten und Unterlagen kennen. Auch wenn es inzwischen ein
Auskunftsrecht gegen die Behörden nach dem Informationsfreiheitsgesetz gibt, so wird man
im Allgemeinen ohne konkrete Benennung der Unterlagen hierüber nichts erfahren.Man selbst
oder ein Angehöriger muss schon betroffen gewesen sein und einen Schaden durch ein
Medikament erlitten haben, erst dann hat man eine Chance. Ich selbst hatte zweimal die
Gelegenheit der Einsichtnahme in die Zulassungsakten und Studien zu dem Antidepressivum
Zoloft bei der Aufsichtsbehörde. Meine Frau hatte sich 2005 das Leben genommen, während
sie in ärztlichen Behandlung war und das Antidepressivum Zoloft erhielt. Da der Verdacht
bestand, dass der Suizid durch das Medikament ausgelöst wurde, wollte ich von der
deutschen Aufsicht wissen, warum sie nichts unternommen hatte, um auf dieses Risiko
hinzuweisen. Denn die Packungsbeilage enthielt damals Anfang 2005 keinen Warnhinweis
zum Suozidrisiko. Jedoch ein halbes Jahr zuvor hatte die amerikanische FDA einen
"Black-Box"-Warnhinweis zum Suizidrisiko für alle SSRI Antidepressiva verbindlich
vorgeschrieben. In Deutschland dauerte es über ein Jahr, bis auch hier diese Warnhinweise
vorgeschrieben wurden.

Hat hier die Aufsicht in Deutschland und Europa versagt? Und wie hat
sie sich im nachhinein verhalten? Etwas über ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Frau
erfuhr ich eher beiläufig, dass aufgrund einer Entscheidung der Europäischen Kommission
vom 19.98.2005 auch in Europa Warnhinweise in der Fachinformation und Packungsbeilage
zun Suizidrisiko vorgeschrieben wurden. Jedoch hat weder die europäische noch die deutsche
Aufsichtsbehörde die Öffentlichkeit hierüber in einer Pressemitteilung oder ähnliches
informiert. Auch die Ärzte wurden nicht hiervon in Kenntnis gesetzt, z.B. durch einen Rote
Hand Brief. Ist dies eine transparente Informationspolitik zum Schutze der Bürger?

Zweite Akteneinsicht

Bei meiner zweiten Akteneinsicht im November 2013 stießen wir auf eine umfangreiche Liste
mit schweren Nebenwirkungen aus klinischen Studien aus Pfizers interner Datenbank, die
zusammen mit dem Zulassungsantrag für Zoloft beim BfArM eingereicht wurden. Da sie zu
umfangreich war, um sie an Ort und Stelle auswerten zu können ließen wir, d.h. Herr Prof.
Müller-Oerlinghausen von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und deren
früherer Vorsitzender, mein Anwalt, der Bruder meiner verstorbenen Frau und ihre Tochter, uns
von den Listen Kopien anfertigen.

Im Frühjahr 2014 erhielt ich die Kopien und machte mich auch sogleich daran, die Listen elektronisch zu erfassen um sie mit den Angaben aus dem
Zulassungsgutachten vergleichen zu können. Obwohl ich zuvor bei der ersten Einsicht schon
einiges gesehen hatte, was auf Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung von Zoloft hingedeutet
hatte, hätte ich nicht erwartet, das ich da zu sehen bekam. Denn die absoluten Anzahlen zu
Suiziden, Suizidversuchen und Fälle von Suizidalität in klinischen Studien unter Zoloft
übertrafen die Angaben in dem Zulassungsgutachten und in der Bewertung des Szizidrisikos
durch das pharmazeutische Unternehmen Pfizer um ein vielfaches.

Obwohl das Zulassungsgutachten wie auch die Bewertung im Zulassungsantrag sich ebenfalls wie die Angaben auf der internen Liste auf die bis zum 01.09.1993 durchgeführten klinischen Studien
bezogen, war die Anzahl der Nebenwirkungen zum Suizidrisiko unter Zoloft in der Datenbank
zehnmal so groß. Wie konnten die gravierenden Differenzen von der Aufsichtsbehörde
übersehen worden sein? Oder hat man die Angaben des vom pharmazeutischen Unternehmen
beauftragten Gutachter gar nicht überprüft? Ein einfacher Vergleich mit den Anzahlen in den
Listen mit dem Gutachten hätte die Aufsicht doch stutzig machen müsse? Oder gab es hierfür
eine einfache und einleuchtende Erklärung , warum ca. 100 Fälle in den Angaben im Gutachten
und des Unternehmen fehlen?

Im Frühjahr 2014 habe ich die Aufsichtsbehörde um eine
Erklärung hierzu gebeten. Meine Anfrage wurde sogleich an das pharmazeutische
Unternehmen weitergeleitet. Nachdem eine erste Frist um drei Monate verlängert wurde,
erhielt die Aufsichtsbehörde Anfang Oktober 2014 eine Stellungnahme von der vom
Unternehmen beauftragten Kanzlei. Nach mehreren Monaten wurde mir nach Anfrage von der
Behörde das Ergebnis der eigenen Bewertung der Stellungnahme des Unternehmens
mitgeteilt.

Erklärung der Aufsichtsbehörde BfArM

Die Differenzen zu den Anzahlen wurden damit erklärt, dass in der internen
Datenbank ja nicht nur die Vorfälle aus klinischen Studien sondern auch die Meldungen zu
schweren Nebenwirkungen außerhalb klinischer Studien umfassen würden, das Gutachten
und die Bewertung durch das Unternehmen sich aber nur auf klinische Studien beziehen
würden. Daher wären die Anzahlen zu schweren Nebenwirkungen zum Suizidrisiko in der
internen Datenbank um das 10 fache größer als im Gutachten und in der Bewertung des
Unternehmens. Also alles ganz einfach und plausibel? Habe ich vielleicht etwas übersehen
und einfach alles zusammengezählt und nicht entsprechend unterschieden? Da meine
Anfrage inzwischen mehr als ein halbes Jahr der Aufsichtsbehörde vorlag und sie somit
genügend Zeit hatte, sowohl die von mir eingereichten Anlagen zu meiner Anfrage zu prüfen
wie auch die Erklärung des Unternehmens, wäre dies nicht auszuschließen.

Aber leider war die scheinbare Erklärung, die ich von der Behörde bekam, völliger Unsinn. Man gewinnt den Eindruck, dass auch von detz Aufsicht bewusst die Unwahrheit gesagt wird. Sie macht sich damit zum Komplizen skrupelloser Pharmamanager. Denn bei nur oberflächlicher Prüfung wär
nicht zu übersehen gewesen, dass die Übersicht aus der internen Datenbank mit ca. 150
schweren Nebenwirkungen zum Suizidrisiko unter Zoloft sich ausschließlich auf klinische
Studien bezogen haben. Auch in meiner Anfrage habe ich dies sehr deutlich gemacht. Wie
man dies missverstehen konnte, ist mir unverständlich. Entweder wurde nicht richtig geprüft,
oder - was ich eher annehme- man hat bewusst und wissentlich eine falsche Erklärung
abgegeben.

Erklärung des Unternehmnens Pfizer zu den unterschiedlichen Anzahlen

Ich hatte daher wissen wollen, was in der ursprünglichen Stellungnahme des
Anwalts des Unternehmens tatsächlich gestanden hat und eine Kopie hiervon angefordert.
Nach mehreren Wochen wurde die mir im April diesen Jahres zugeschickt. Was ich da las war
wahrlich unglaublich. Die Diskrepanz der Daten wurde nicht damit begründet - wie die
Aufsichtsbehörde es dargestellt hatte- dass die interne Datendank zu Zoloft auch Fälle
erfassen würde, die sich nicht in klinischen Studien ereignet haben, sondern, dass nur die Fälle
aus den klinischen Studien gewertet wurden, bei denen nach Ansicht der Prüfärzte
möglicherweise ein Kausalzusammenhang mit dem Zoloft bestand.

Mit anderen Worten: Wenn nach Ansicht des Arztes, der die Studie für das Prüfinstitut überwacht hat, das wiederum vom pharmazeutischen Unternehmen hiermit beauftragt wurde und hierfür bezahlt wird, der Ansicht war, dass es andere Gründe oder Umstände für die Nebenwirkung eines
Suizidversuches gibt, die nicht dem Medikament zuzurechnen sind, dann wurde diese
Nebenwirkung auch nicht bei der Bewertung des Suizidrisikos - also insbesondere bei der
Frage einer möglichen Kausalität- berücksichtigt. Warum braucht man dann überhaupt noch
klinische Studien, um die kausalen Ursachen für eine bestimmte Nebenwirkung zu
untersuchen, wenn doch der Arzt das schon vorher weiß? Was ist dann noch eine Studie oder
Zulassung wert, wenn schwerwiegende Nebenwirkungen so mir nichts dir nichts weggelassen
werden können?

Für die Aufsichtsbehörde in Deutschland ist dies alles kein Problem: Da die
Tabellen irgendwo in den 70 Ordnern verborgen waren, die bei der Zulassung einreicht wurden,
konnten die ja auch bei der "Entscheidung der Behörde über die Zulassung Berücksichtigung
finden. Dem Unternehmen sei daher kein Fehlverhalten vorzuwerfen." Mit anderen Worten:
Wenn die Aufsicht zu blöd war, diese Daten zu finden, wo doch darauf verwiesen wurde, dann
ist nicht das Unternehmen sondern die Aufsicht selbst schuld.


Ich frage mich, worin besteht eigentlich die Aufgabe einer Aufsichtsbehörde? Nur die
Zulassungsanträge zu verwalten und abzulegen oder wird auch schon mal nachgeschaut und
überprüft, ob sich die Aussagen des Unternehmens mit den vollständigen Daten decken? Und
was unternimmt die Behörde, wenn ein derartiger Schwindel auffliegt? Wie üblich nichts! Man
wartet einfach ab, bis sich der Rauch der Aufregung gelegt hat. Für die ist der Fall damit
erledigt. Für die vielen tausend Menschen, die diese Medikamente Tag für Tag einnehmen,
leider nicht.

Freitag, 18. September 2015

Studie 329: Re-Analyse bezweifelt Effektivität und Sicherheit von SSRI für Jugendliche


Deutsches Ärzteblatt

Studie 329: Re-Analyse bezweifelt Effektivität und Sicherheit von SSRI für Jugendliche

Donnerstag, 17. September 2015

Adelaide – Die Re-Analyse einer zunächst einflussreichen und dann zunehmend kontroversen Studie zum Einsatz des Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI) Paroxetin bei Jugendlichen mit Major-Depression kommt im Britischen Ärzteblatt (BMJ 2015; 351: h4320) zu einer ganz anderen Einschätzung zur Effektivität und Sicherheit des Antidepressivums als die Originalpublikation.
Die randomisierte Studie 329 hatte zwischen 1994 und 1998 an 275 Jugendlichen (Alter 12 bis 18 Jahre) mit Major-Depression die Effektivität und Sicherheit des damals noch neuen SSRI Paroxetin mit dem älteren trizyklischen Antidepressivum Imipramin und mit Placebo verglichen. Die Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen des Herstellers SmithKline Beecham zurück. Paroxetin war nicht effektiver als Imipramin, und der Unterschied zum Placebo-Arm war minimal. Die Verträglichkeit von Paroxetin war erfahrungsgemäß besser als bei Imipramin.

Doch bei elf von 93 Patienten im Paroxetin-Arm (versus 2 von 87 im Placebo-Arm) war es zu schweren psychiatrischen Ereignissen gekommen, die häufig eine Hospitalisierung erforderlich machten. Darunter waren fünf Patienten, bei denen die Prüfärzte suizidale Gedanken oder Gestiken bemerkt hatten, und zwei Patienten waren in der Schule durch aggressives Verhalten aufgefallen. Zwei weitere Patienten erlitten eine Verschlechterung der Depression, einer entwickelte eine euphorische Stimmungslage. Der elfte Patient litt unter der Therapie mit Paroxetin unter schweren Kopfschmerzen.
Wie später bekannt gewordene Dokumente zeigen, verzichtete SmithKline Beecham (auch wegen schlechter Ergebnisse in einer zweiten Studie) darauf, bei der US-Arzneibehörde FDA die angestrebte Erweiterung der Zulassung auf Jugendliche zu beantragen. Ein weiterer Rückschlag war, dass das amerikanische Ärzteblatt JAMA 1999 die Publikation der Studie 329 ablehnte. Sie wurde schließlich 2001 im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (JAACAP) veröffentlicht, allerdings in einer veränderten Version.
Der Hersteller hatte eine PR-Firma mit einer Überarbeitung des Manuskripts beauftragt, offenbar um den Ergebnissen den richtigen „Dreh“ zu geben. Der Ghostwriter der Firma deutete die Suizidalität als „emotionale Labilität“ und die Aggressivität als „Verhaltens­störung“. Ein Zusammenhang mit der Medikation wurde nicht hergestellt. Die Verschlech­terung der Depression und die Euphorie ließen sich als Therapieversagen deuten. Am Ende blieb es statt bei elf nur bei einem schweren psychiatrischen Ereignis (den Kopfschmerzen). Im Abstract der Publikation wurde Paroxetin als „im allgemeinen gut verträglich und wirksam“ bezeichnet.

SmithKline Beecham und später GlaxoSmithKline (GSK) nutzen die Daten der Studie, um Kinderpsychiater vom Nutzen von Paroxetin zu überzeugen und sie zu einer Off-Label-Verordnung zu veranlassen. Die Kampagne war erfolgreich. In den Jahren 2002 und 2003 stieg die Zahl der Verordnungen von Paroxetin an Teenager um 36 Prozent an. Dies rief schließlich die New Yorker Staatsanwaltschaft auf den Plan. Ihrer Ansicht nach verstieß der Hersteller gegen ein Werbeverbot, das in den USA strengen Regeln unterliegt. Übertritte werden mit hohen Bußen geahndet.
Mach einem langjährigen Verfahren zahlte GSK 2012 in einem Vergleich insgesamt 3 Milliarden US-Dollar an Strafgeldern. Die Manipulationen hatten 2003 – nach einem Bericht der BBC-Sendung Panorama – auch die britische Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) und die US-Arzneibehörde alarmiert. Die MHRA bezweifelte, dass Paroxetin bei Jugendlichen eine Wirkung hat. Die FDA warnte in der Folge mehrmals vor dem Suizidrisiko unter Paroxetin (und später auch anderer SSRI) bei jüngeren Patienten. Vom Einsatz von SSRI bei Jugendlichen wird heute allgemein abgeraten.
Obwohl die Studie 329 diskreditiert sein dürfte und ihre Ergebnisse keinen Einfluss auf Leitlinien und (positive) Therapie-Entscheidungen haben (sollten), hat eine Gruppe um Jon Jureidini von der Universität von Adelaide jetzt eine Re-Analyse der Studie vorgelegt. Sie folgen damit einem Aufruf von Peter Doshi, einem stellvertretenden Herausgeber des British Medical Journals (BMJ), der vor zwei Jahren das Projekt RIAT („restoring invisible and abandoned trials”) ins Leben gerufen hat, zu deren Früchten die jetzt im BMJ veröffentlichte Re-Analyse der Studie 329 gehört.

Der Hersteller GSK, der weiterhin auf der Seriosität der damaligen Publikation besteht, hat sich – offenbar nach anfänglichem Zögern – bereit erklärt, den Forschern die Prüfberichte aller 275 Patienten zur Verfügung zu stellen. Die etwa 77.000 Seiten haben dann die Ressourcen der Forscher doch überfordert. Die angestrebte genaue Prüfung war ihnen nur bei 93 Prüfberichten möglich.

Die Re-Analyse zur Wirksamkeit ergab im Gegensatz zur Orginalpublikation, dass Paroxetin weder im Rückgang der Hamilton Depression Scale (HAM D) noch im Anteil der Responder eine bessere Wirkung erzielte als Imipramin oder Placebo. Der Anteil der Nebenwirkungen war in den 93 detailliert untersuchten Prüfberichten höher als in der Originalpublikation. Dies traf jedoch nicht nur für Paroxetin (plus 14 Prozent) zu, sondern auch für Imipramin (plus 7 Prozent) und für Placebo (plus 13 Prozent).

Die Zahl der Patienten mit suizidalem Verhalten oder Gedanken stieg von fünf in der Original­publikation auf sieben. Hinzu kommen noch einmal vier Fälle, die in der Ausschleichphase auftraten. Die Gruppe um Jureidini moniert darüber hinaus noch einige andere Punkte, die zu einer verzerrten Darstellung der Ergebnisse führen könnten.

Insgesamt hat das Team keine groben Verstöße gegen die Regeln klinischer Studien gefunden, was bei einer korrekten Verblindung auch nicht zu erwarten ist. Ob sich die Mühen gelohnt haben, bleibt abzuwarten. Ein – nicht offen ausgesprochenes – Ziel der Publikation scheint es zu sein, die American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, den Herausgeber des JAACAP, zur Rücknahme der Publikation zu bewegen.
Dieses Ansinnen hat die medizinische Fachgesellschaft jedoch stets zurückgewiesen. Auch für die Gruppe von 22 Autoren um Martin Keller von der Brown University in Providence, Rhode Island hat die Diskussion um die Studie 329 keine beruflichen Konsequenzen gehabt.

Samstag, 25. Juli 2015

Manipulierte Pharmatests in Indien: EU-Kommission stoppt Arzneimittel wegen gefälschter Studien

Hallo zusammen,

in der Tagesschau wurde am Do, 23.07.2015 davon berichtet, dass die europäische Aufsichtsbehörde EMA ca. 700 Zulassungen von Generika-Medikamenten zurückgezogen hat, da Studien zur Verträglichkeit manipuliert wurden.


Ich frage mich, warum die Aufsichtsbehörde weder in Deutschland noch in Europa bezüglich der SSRI-Antidepressiva, insbes. bezüglich Zoloft,  etwas unternehmen will. Denn durch Akteneinsicht bei der Aufsichtsbehörde BfArM in Bonn haben wir entdeckt, dass das pharmazeutische Unternehmen Pfizer bei der Zulassung von Zoloft nur 10% aller schweren Nebenwirkungen bezüglich des Suizidrisikos von Zoloft bei der Bewertung dieses Risikos berücksichtigt hatte. D.h. 90% wurden einfach ignoriert! Weiter hat sich gezeigt, dass kein einziger Suizid unter Zoloft in der Analyse des Suizidrisikos einbezogen wurde. Hierauf angesprochen, meint das deutsche BfArM, dass ja sämtliche Fälle - auch die 90%, die nicht herangezogen wurden- der Behörde bei der Zulassung vorgelegen hätten und daher dem pharmazeutischen Unternehmen kein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann. Doch wurden die 90% der Fälle, die in der Analyse des Unternehmens gefehlt haben, auch bei der Zulassung  von der Aufsicht berücksichtigt? Warum hat Pfizer die 90% der schweren Nebenwirkungen nicht mit einbezogen? Hätte Zoloft dann auch mit den vollständigen Daten  aller Fälle aus klinischen Studien die Zulassung erhalten? Wer, wenn nicht das Unternehmen, hat dann versagt?  (siehe http://gegen-pfizer.blogspot.de/2015/04/die-ganze-wahrheit-uber-zoloft-pfizers.html)

Manipulierte Pharmatests in Indien: EU-Kommission stoppt Arzneimittel wegen gefälschter Studien


Quelle: Spiegel Online, 24.07.2015



Arzneimittellager: EMA entzieht Hunderten Generika die Zulassung Zur Großansicht
DPA
Arzneimittellager: EMA entzieht Hunderten Generika die Zulassung
Generika sind verlockend, denn die wirkstoffgleichen Kopien sind meist günstiger als das Originalmedikament. Doch auch Generika müssen geprüft werden. Weil eine indische Firma dabei pfuschte, zog die EU-Kommission jetzt Konsequenze
Die EU legt etwa 700 Zulassungen für Arzneimittel auf Eis. Grund sind gefälschte Studien der indischen Firma GVK Biosciences, auf deren Basis die Medikamente zugelassen wurden. Ab dem 21. August dürfen die Mittel nicht mehr in Europa verkauft werden. Ausnahmen sind aber unter bestimmten Bedingungen möglich, schreibt die Europäische Arzneimittelbehörde.
 
Der Beschluss betrifft zwar 700 Zulassungen, aber deutlich weniger Medikamente. Eine Zulassung gilt jeweils für einen Wirkstoff in einer bestimmten Dosierung und Darreichungsform (etwa als Tropfen oder Tablette). Ein Medikament kann es in unterschiedlichen Formen geben.
46 Zulassungen in Deutschland betroffen
Die Manipulationen in den Studien durch GVK Bio waren Ende vergangenen Jahres bekannt geworden. Test sind stets Voraussetzung für die Zulassung der Generika, also von Nachahmerprodukten, die häufig günstiger sind als das Original. Belege, dass die Medikamente Menschen schadeten oder nicht wirken, gibt es laut EU-Kommission nicht.
Zahlreiche Behörden in der EU suspendierten bereits im Dezember betroffene Medikamente. Neben Frankreich, Luxemburg, Polen, Belgien und Österreich reagierte auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Behörde verfügte für 80 Medikamente von 16 Herstellen einen sofortigen Verkaufsstopp.
 
Nach jüngstem Stand hat das BfArM insgesamt 46 Zulassungen aufgehoben. In 17 Fällen gilt die Zulassung aber weiter, weil betroffene Unternehmen Klage einreichten. Diese Liste der suspendierten Medikamente wird die deutsche Behörde nun nach dem Beschluss der EU-Kommission aktualisieren.
GVK Bio bestreitet bis heute, dass es Manipulationen gegeben habe. Die von den internationalen Prüfern beanstandeten Elektrokardiogramme (EKGs) - also Ergebnisse von Herzuntersuchungen - seien für die Studien nicht relevant gewesen, sagte GVK-Unternehmenssprecherin Dorothy Paul. Damit habe man nur testen wollen, ob die Teilnehmer gesund seien, ehe sie das Unternehmen verließen. "Wir sind enttäuscht, dass sich die Behörden trotz der Bereitstellung detaillierter Erklärungen und erneuten Untersuchungen zu diesem Schritt entschlossen haben."